Klima und Queers: „Klimaschutz ist Homo(sapiens)schutz“
Drag lebt vom Überfluss, Klimaaktivismus vom Verzicht. Wie das zusammenpasst, zeigt die Klima-Dragqueen Inge Ringle – mit klarer Botschaft.

Die Worte hallen laut und deutlich über den Stuttgarter Marktplatz. „Ich stehe heute hier – elegant, stolz und kraftvoll, mit gespreizten Rotorblättern – aber auch voller Angst.“ Inge Ringle ist komplett in Weiß gekleidet, trägt glitzernde Windradflügel und eine Schärpe mit der Aufschrift „Windmühle der Schande“. Die Zuschauer:innen folgen gespannt ihrer Rede, applaudieren und jubeln zustimmend.
Es ist der letzte globale Klimastreik vor den Bundestagswahlen 2025, und Inge Ringle hat eine klare Botschaft: Klimaschutz ist essenziell für unsere Zukunft. Inspiration für ihre Rede lieferte ausgerechnet Alice Weidel, die auf dem Parteitag der AfD von „Windmühlen der Schande“ sprach und damit den Abbau von Windrädern forderte. Statt sich nur darüber zu ärgern, verwandelte sich Inge Ringle selbst in die „Schande“ – und zieht die Aussage ins Ironische.
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Inge Ringle ist eine besondere Stimme in der Klimabewegung, denn sie ist eine sogenannte Klimadiva. Mit außergewöhnlichen und einzigartigen Outfits und Performances verbindet sie ihre beiden großen Leidenschaften: Drag und Klimaaktivismus. Ob als „Windmühle der Schande“, „Greenwashing-Maschine“, Wal oder Dschungel – Inge macht provokant und unterhaltsam auf den Klimawandel aufmerksam.
Drag ist eine vielfältige Kunstform, die oft mit verführerischen Auftritten in glitzernden Kleidern, auffälligem Make-up und dem Spiel mit Geschlechterrollen verbunden wird. Ob durch trashige Parodien auf Alltagssexismus, provokante Lipsync-Battles gegen LGBTQIA+-Feindlichkeit oder Performances, die Rassismus thematisieren: Die Kunstform ist häufig hochpolitisch.
Aufmerksamkeit schaffen
„Ich kann in Drag meine wildesten Ideen ausleben“, erzählt Ingo Haller begeistert. Er ist 28 Jahre alt, lebt in Stuttgart und verkörpert die Dragqueen „Inge Ringle“. Neben klassischeren Performances, in denen die Drag sich elegant in glamouröser Kleidung über die Bühne bewegt, ist Inge Ringle auch: eine Klimadrag.
Zu Beginn seines Dragseins stand klimapolitisches Engagement für Haller noch im Konflikt mit der Kunstform. Drag lebt von auffälligen Kleidungsstücken, glitzernder Schminke, aufwendigen Perücken und Accessoires, die oft aus Materialien bestehen, die nicht nachhaltig sind. Haller näht zwar auch eigene Outfits und versucht Secondhand zu kaufen, trotzdem bestelle er viel über Amazon.
Auch nachhaltiges Schminken sei ein Problem: „Bio-Make-up kann nicht genug decken.“ Inzwischen habe er mindestens 13 Paar Highheels in seinem Schrank, und Drag und Nachhaltigkeit schließen sich für ihn längst nicht mehr aus. Wichtiger sei ihm die Aufmerksamkeit, die er mit seinen provokanten Auftritten für den Klimawandel schafft.
Dragsein gebe ihm eine gewisse Narrenfreiheit, sagt Ingo Haller. Er kann sich kreativ ausleben und zugleich politisch aktiv sein. „Es gibt mir Kraft und Selbstbewusstsein.“ Schon von klein auf war er ein „richtiges Theaterkind“, interessierte sich für Make-up und Schauspielerei. Drag entdeckte er erst 2018 mit Anfang 20, durch Enzo, „einen hübschen schwulen Pariser“. Seitdem lasse ihn die Dragkultur nicht mehr in Ruhe.
Kostüm mit Wortwitz
Inge Ringle ist eine Schaumgeburt. Ihren ersten Auftritt hatte sie 2019, als sie mit Theaterfreunden an einem See in Brandenburg war. Zu diesem Zeitpunkt hatte Haller noch nie eine andere Drag in Realität getroffen. Er hat sich die Kunstform selbst angeeignet, ohne Unterstützung einer sogenannten Dragfamilie. Das System einer Dragfamilie soll dabei helfen, Anschluss in der Dragwelt zu finden.
Ursprünglich kommt das Konzept aus den 80ern aus New York. Die Gemeinschaften sollen einen sicheren Raum für queere Personen bieten. Eine „Adoption“ in sogenannte Dragfamilien soll Unterstützung, Anleitung und Schutz bieten. Die Familien kümmern sich umeinander und bringen sich gegenseitig Dinge bei.
Seit dem Stuttgarter Christopher Street Day (CSD) 2022 macht Ingo Haller regelmäßig Drag. Dort erlebte er auch das erste Mal andere Dragqueens. „Und ich war eine von ihnen – in einem selbstgenähten Outfit und mit Birkenstocks.“ Heute ist Haller fester Bestandteil der Stuttgarter Dragszene und tritt etwa ein- bis zweimal im Monat als Inge Ringle auf.
Seine Ideen für die Kostüme beginnen meist durch einen Wortwitz. Dann entwickelt er in seinem Kopf eine konkretere Vorstellung des Outfits – ohne sie aufzuschreiben. „Wenn die Idee gut ist, kommt sie wieder.“ Setzt sich eine Idee fest, geht es für Haller an die Nähmaschine, ein Erbstück seines Vaters. Früher habe dieser mit der Maschine seine Drachen fürs Kitesurfen repariert und Haller dabei das Nähen beigebracht.
Neue Perspektiven durch Drag
Parallel zu seiner Drag-Entwicklung hat Haller den Weg in den Klimaaktivismus gefunden. Während seines Architekturstudiums habe er sich 2018 in einem Seminar mit ressourcenschonendem und klimagerechtem Bauen auseinandergesetzt. Hier kam er zum ersten Mal so richtig mit dem Thema Klimawandel in Berührung – und lässt es seitdem nicht mehr los.
2019 gründete Haller mit damaligen Kolleg:innen einen Nachhaltigkeitsstammtisch, ab 2022 engagierte er sich bei Architects 4 Future Stuttgart.
Inge Ringle, Dragqueen
Durch sein Engagement lernte Haller viele Personen in der Klimabewegung kennen. Gemeinsam mit anderen klimapolitischen Aktivist:innen gründete er 2023 die Drags 4 Future, die sich auch Klimadivas nennen. Die Gruppe möchte frischen Wind in die Szene bringen. „In den letzten Jahren hat sich die Klimabewegung stark verändert“, so Haller.
Er habe das Gefühl, bei der Fridays-for-Future-Bewegung und der ehemaligen Letzten Generation sei die Luft raus. Auch die Akzeptanz der Bevölkerung für störenden Klimaaktivismus sei immer geringer. „Dabei ist der nötige Wandel, um eine Klimakatastrophe zu verhindern, noch lange nicht erreicht.“ Durch Drag hofft er, neue Perspektiven zu eröffnen und Menschen für den Klimaschutz zu sensibilisieren.
Kampf um Klimagerechtigkeit und Rechte für Queers
Es habe Angst vor einem Sturm, der nicht aus Wind, sondern aus Ignoranz besteht, erzählt das glitzernde Windrad auf dem Stuttgarter Marktplatz. „Der Wind of Change weht zurzeit aus der falschen Richtung“, warnt Inge Ringle, sie spielt damit auf den Rechtsruck in Deutschland an. Die AfD wolle nicht nur Windräder abreißen, sie bedroht auch ganz konkret die Rechte und Lebensweisen queerer Personen.
Die Klimakrise und der Kampf um queere Rechte haben die gleiche Grundlage, erklärt Ingo Haller: ein System, das marginalisierte Gruppen zurücklässt und besonders denjenigen Schutz bietet, die privilegiert sind. Queere Menschen haben durch Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität oder ihrer Geschlechtsmerkmale weniger stabile Strukturen, auf die sie sich verlassen können.

Eine überwältigende Mehrheit von 80 bis 89 Prozent der Menschheit wünscht sich Klimaschutz, zeigen Umfragen. Beim „89 Percent Project“ des Netzwerks Covering Climate Now berichten dieses Jahr Journalist*innen weltweit über Menschen, die etwas für den Planeten erreichen wollen – und über die Hürden, vor denen sie stehen.
Auch in einem kapitalistischen System seien bei der Klimakrise starke Ungerechtigkeiten zu spüren. Wer viel Geld hat, kann sich besser vor den Folgen der Klimakrise schützen. Queere Personen leben überdurchschnittlich oft in Armut. „Klimaschutz ist Homo(sapiens)schutz“, betont Inge Ringle, denn die Schnittmenge zwischen Queerness und Klimakampf sei groß. Aber auch von der queeren Community werde das noch nicht ausreichend realisiert. Mit ihren Auftritten will sie eine klare Verbindung aufzeigen.
Noch ist die Klimadrag-Szene klein. Haller möchte mit seinen Auftritten als Klimadiva Inge Ringle Personen dazu inspirieren, sich auf kreative Art für das Klima einzusetzen. „Protest kann witzig sein, Protest kann Kunst sein, Protest kann Wind machen – und genau das brauchen wir.“
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