Bernhard Pötter Wir retten die Welt: Legal, klimaneutral, scheißegal
Ich weiß gar nicht, was ich an der Schweiz am meisten mag: die Engadiner Nusstorte oder den Engadiner Skimarathon; das fantastische Baden in der Limmat in Zürich oder im Vierwaldstätter See; die Älpler Makkaroni auf der Berghütte oder die schräge Guggenmusik mit den noch schrägeren Masken in der Luzerner Fasnacht. Oder vielleicht doch diese No-Bullshit-Haltung, mit der sie abenteuerlustig und gleichzeitig respektvoll in die Berge gehen, immer mit einem Zug zur Anarchie. Der Rest der Welt liebt die Schweiz vor allem wegen ihrer pünktlichen Züge und ihrer staubtrockenen Seriosität: die Sicherheit der Banken, die Stabilität der Politik, die produktive Langeweile der UNO in Genf. Die Schweiz ist erbaut auf politischem Kompromiss und dem Respekt vor den Gesetzen.
Und dann das: Am Mittwoch erklärte der Bundesrat (die Regierung): Nö, an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Schweiz fühlen wir uns nicht gebunden und werden uns auch nicht daran halten. Das Gericht hatte im Frühjahr überraschend der Klage der Schweizer „Klima-Seniorinnen“ stattgegeben, die für die Klimapläne der Eidgenossen mehr Ehrgeiz gefordert hatten. Eine überraschende juristische Klatsche für die Konsensrepublik. Und die Schweizer Regierung sagt dem Gericht und dem europäischen Rechtssystem für Menschenrechte jetzt offen und offiziell: Ihr könnt uns mal.
Aber Achtung: Niemand sollte denken, das sei nur so bei unseren Nachbarn, den Meineidgenossen. Auch in Deutschland ist auffällig: Gerade Konservative und Wirtschaftsliberale, die normalerweise in „rechtsfreien Räumen“ den Untergang des Abendlandes sehen, werden zu Systemsprengern, wenn sie in Klima- und Umweltdingen vor Gericht unterliegen. Dann hilft auch der feierlichste Schwur auf die freiheitliche demokratische Grundordnung und den Rechtsstaat nicht mehr. Dann ist es diesen Politpunks einfach scheißegal, ob das Bundesverfassungsgericht fordert, dass mehr für den Klimaschutz getan werden muss – man macht ein Klimaschutzgesetz mit starken Zielen und schwachen Maßnahmen, die man nicht umsetzt. Rechtsfolge: nix. Dann kommt die nächste Regierung und verstößt jahrelang gegen das Gesetz. Rechtsfolge: gar nix. Und dann ändert die Regierung das Gesetz, ohne auch nur ernsthaft probiert zu haben, es einzuhalten, etwa im Verkehr.
Auch sonst greift in Ökofragen die wildeste Anarchie um sich: Wenn Umweltgruppen wie die Deutsche Umwelthilfe (DUH) Rechtsbruch monieren, gegen dreckige Luft, Untätigkeit der Behörden oder Nichteinhalten der Regeln vor Gericht ziehen und immer wieder recht bekommen – dann debattiert das Parlament lieber, ob die DUH noch gemeinnützig ist. Wenn die Bundesländer ihrer Pflicht nicht nachkommen, genug Windflächen auszuweisen oder bei der Suche nach einem Atomendlager zu helfen, kommt kein Gerichtsvollzieher. Wenn Deutschland die Umsetzung von EU-Richtlinien blockiert, gilt das als normale Politik. Wenn die Dieselgauner von VW ihre Kunden und die Umwelt mit Milliardensummen betrügen, deckt sie die Politik und die Justiz lässt sich sehr viel Zeit. Wenn wir alle rechtsstaatlich abgesegneten Regeln gegen den Flächenfraß missachten, genehmigte Stromtrassen oder Windparks boykottieren oder jahrzehntelang gegen gesetzliche (!) Grenzwerte für Luft, Wasser oder für Gülle im Boden verstoßen – dann sieht darin niemand einen Angriff auf den Rechtsstaat. Aber wenn jemand vor Autos und Flugzeugen sitzt und den Urlaubsverkehr stört, soll er für zwei Jahre ohne Bewährung in den Knast.
Jawohl, die Schweiz sollte vor Scham rot wie Alpenglühen werden und ihre „It doesn’t Matter-horn“-Politik schleunigst korrigieren. Aber wir sollten uns zuerst an unsere deutsche Kartoffelnase fassen und uns erinnern: Was die Alpen zusammenhält, ist der Permafrost. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, ist der Respekt vor dem Recht. Weil beides gleichzeitig bröckelt, haben wir ein ernstes Problem.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen