Klima-Bilanz der Merkel-Ära: Die Schönwetter-Kanzlerin
Seit 14 Jahren regiert eine Klimaschützerin das Land. Trotzdem werden alle Ziele zur CO2-Reduktion verfehlt. Was ist da schiefgelaufen?
Ob Merkel das an diesem 14. September 2017 wirklich glaubt, ist unklar. Aber die Situation zeigt, wie Merkel mit der „Menschheitsherausforderung, die unsere Verantwortung ist“ (Merkel über die Erderhitzung) umgeht: Sie kennt alle Details, aber andere Themen sind wichtiger. Im Wahlkampf kommt Klima nicht vor. Und: Angela Merkel kann mit dem Titel „Klimakanzlerin“ nichts anfangen. Zu Recht.
Denn Merkel macht Versprechungen, die sie nicht halten kann. Ein halbes Jahr nach diesem Abend kassiert Merkels viertes Kabinett offiziell das 40-Prozent-Ziel für 2020, das Merkel 2007 ausgerufen hat. Und nicht nur das: Kaum eines der deutschen Umwelt- und Nachhaltigkeitsziele wird erreicht. Und bei den CO2-Vorgaben für Gebäude und Autos werden die EU-Ziele so weit verfehlt, dass die Regierung wahrscheinlich bald Milliarden für CO2-Lizenzen zahlen muss.
Wie konnte das passieren? Angela Merkel ist als Klimakanzlerin die Idealbesetzung. Als Physikerin versteht sie das Thema und seine Dringlichkeit so gut wie kaum ein Politiker. Schon als Umweltministerin hat sie den Klimaschutz geprägt – und der Klimaschutz sie. Sie führt eines der reichsten und innovativsten Länder der Erde, in dem Umweltschutz populär ist. Und sie ist seit 14 Jahren Kanzlerin. Lange genug, um echte Veränderungen durchzudrücken.
Es waren einmal die Versprechen der Vergangenheit
Aber auch lange genug, dass ihre alten Versprechen sie inzwischen einholen. Denn zum Ende ihrer Amtszeit zeigt sich: Merkel ist mit Elan gestartet, aber dann nicht am Ball geblieben. Gutes Klima war oft nur ein Thema für schönes Wetter. Als Angela Merkel die Macht hatte, ernsthaften Klimaschutz durchzusetzen, fehlte ihr dazu der Mut. Jetzt, wo sie diesen Mut wiedergefunden hat, könnte ihr die Macht fehlen.
In diesen Tagen dreht sich alles ums Klima. Aus dem einsamen Protest von Greta Thunberg in Stockholm ist eine globale Bewegung geworden. Sie ruft zum weltweiten Streik auf. Am 20. September protestiert „Fridays For Future“ in 400 deutschen Städten, weltweit soll es 2.000 Aktionen in 120 Ländern geben. Gleichzeitig stellt die Bundesregierung die Weichen für eine strengere Klimapolitik.
Die taz ist Teil der Kampagne „Covering Climate Now“. Mehr als 200 Medien weltweit setzen bis zum UN-Klimagipfel vom 21. bis 23. September in New York gemeinsam genau ein Thema: Klima, Klima, Klima.
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Viele Gespräche mit Beamten, Freunden und Gegnern der Kanzlerin, mit Regierungsmitarbeitern, Beobachtern und Lobbyisten zeigen, wie eine ehrgeizige Klimapolitikerin trotz günstiger Umstände scheitert. Praktisch alle Gesprächspartner loben Merkels scharfen Verstand, ihr Detailwissen, das Fehlen von Eitelkeit und ihr Interesse an Lösungen. Wer allerdings die klimapolitische Fieberkurve der Merkel-Jahre nachzeichnet, bemerkt, wie umkämpft das Thema ist, wie stark andere Probleme bisweilen in den Vordergrund drängen. Aber auch, wie begrenzt selbst die Macht einer Kanzlerin ist – und wie schlecht Merkels Regierungsstil auf eine Krise wie die Erderhitzung zugeschnitten ist.
Der CO2-Fußabdruck der Kanzlerin ist desaströs: Im vergangenen Jahr saß Merkel in elf Monaten 81 Mal im Flugzeug. Sie flog 325.257 Kilometer. Das ergibt schätzungsweise eine Klimabelastung von etwa 300 Tonnen CO2 – 30 Mal so viel wie der deutsche Durchschnitt. Aber hier geht es um ihre politische Klimabilanz.
Zufriedenheit sieht anders aus
14 Jahre Merkel: „Viel mehr war nicht drin“, nimmt sie einer ihrer größten Unterstützer und langjähriger Berater, der Klimaexperte Hans Joachim Schellnhuber vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK), in Schutz. Greenpeace dagegen findet ihre Bilanz „mangelhaft“. Merkel selbst meint: „Schluss mit Pillepalle.“ Die Kanzlerin, sagt ihr Umfeld, ist nicht zufrieden.
Ihre Amtszeit begann – mit einem verpassten Klimaziel. 2005 erreicht Deutschland nicht die CO2-Reduktion von 25 Prozent, die Bundeskanzler Helmut Kohl und seine Umweltministerin Merkel 1995 versprochen hatten. Aber 2007 wird das Klimajahr. In ihrer ersten GroKo ist die SPD fast auf Augenhöhe, deren Umweltminister Sigmar Gabriel will sich mit ökologischer Industriepolitik als Mann der Zukunft präsentieren. Der Mainstream ist öko: 2007 legt der Weltklimarat einen erschütternden Bericht vor und bekommt den Friedensnobelpreis, im Kino läuft Al Gores Film „Unbequeme Wahrheit“.
Deutschland marschiert vorneweg: Das Kabinett verabschiedet das „Integrierte Energie- und Klimaprogramm“ (IEKP) mit 29 Maßnahmen, die mit viel Geld Ökostrom fördern, die Kfz-Steuer auf CO2-Ausstoß umstellen, Energiesparen verordnen, Gebäude sanieren und Forschung anstoßen. Merkel drückt bei dem G8-Gipfel in Heiligendamm das „2-Grad-Ziel“ beim Klima durch. In Brüssel drängt sie als EU-Ratspräsidentin die Europäer zu einem ambitionierten Klimaziel bis 2020. Kanzlerin und Umweltminister ziehen rote Outdoor-Jacken an und besuchen vor den Augen von TV-Kameras die tauenden Gletscher von Grönland. Merkel ist jetzt Klimakanzlerin.
Statt dem Kampf gegen die Heißzeit folgt dann allerdings die kalte Dusche. Am 15. September 2008 kollabiert die US-Bank Lehman Brothers und kurz danach die Weltwirtschaft. Von da ab ist praktisch permanent Alarmstimmung: Wirtschaftskrise, Eurokrise, 2009 scheitert der Klimagipfel von Kopenhagen. Die Krisen gehen weiter: Griechenland, Ukraine, ab 2015 Flüchtlingskrise. Merkel steuert ihr Land durch diese Turbulenzen: Vorsichtig, sie sucht den kleinsten gemeinsamen Nenner, nimmt meistens alle mit – und riskiert wenig.
Die Klimakrise kennt keine Pause
Die Klimakrise dagegen eskaliert still und leise im Hintergrund. Um ihr zu begegnen, reicht es aber nicht, zu reagieren, zu warten, nichts zu wagen. Merkel müsste überzeugen, drängen, vorangehen, mitreißen, sagen viele. „Der Regierungsapparat war auf diese Krise nicht eingestellt“, sagt einer ihrer Berater. Und Merkel fordert das nicht ein. Klimaschutz gilt als Steckenpferd des Umweltministers. „Alle anderen Ressorts sagten: Macht mal schön!“, erinnert sich dort ein Beamter. Ein „Klimakabinett“, in dem auch die Minister für Wirtschaft, Verkehr und Bauen Verantwortung tragen, richtet Merkel erst im 14. Jahr ihrer Amtszeit ein.
2011 nutzt Merkel eine akute Krise für einen grünen Schwenk: Nach der Atomkatastrophe von Fukushima und der Wahlkatastrophe von Stuttgart, wo die CDU das Schaffer-Ländle ausgerechnet an die Grünen verliert, ruft sie die „Energiewende“ aus. Doch in ihrer schwarz-gelben Koalition ist die Rückkehr zum alten Atomausstieg von Rot-Grün höchst unpopulär. Die Koalition streitet um die steigenden Kosten für die Öko-Energien, verschleppt die dringende Reform des Emissionshandels und ignoriert die Emissionen aus Verkehr und Gebäuden. Noch 2011 jubelt CDU-Umweltminister Norbert Röttgen, das 40-Prozent-Ziel sei „in greifbare Nähe gerückt“ und „ohne große Schwierigkeiten“ zu schaffen. Doch schon damals sinken die deutschen Emissionen nicht mehr, und sie werden es bis 2018 kaum tun.
„2013 war eine gute Chance, beim Klimaschutz voranzukommen“, sagt einer, der an vielen Entscheidungen eng beteiligt war. Aber daraus wird nichts. Die SPD stellt in der zweiten Groko die Kohle unter Artenschutz und schickt ihren Parteichef Sigmar Gabriel ins Wirtschaftsministerium. Der scheitert an den Gewerkschaften beim Versuch, die Kohle mit einer „Klimaabgabe“ aus dem Markt zu drängen. Fortan macht er nur noch seiner Parteifreundin Barbara Hendricks im Umweltministerium das Leben schwer.
UN-Klimagipfel ohne Merkel
In dieser Zeit rutscht das Klima weit nach unten auf Merkels Prioritätenliste. Im September 2014 machen sich weltweit Politik, Wirtschaft und auch Filmstars für ein neues Klimaabkommen stark. Merkel aber ignoriert eine Einladung zu einem UN-Klimagipfel in New York mit 120 Regierungschefs. Sie bleibt in Berlin und besucht derweil demonstrativ die Jahrestagung des Bundesverbands der Deutschen Industrie. Und spottet im Umweltausschuss des Bundestags: Sie habe es nicht nötig, „mit Leonardo DiCaprio Häppchen zu essen“, erinnert sich eine Abgeordnete.
In diesen Jahren ruiniert Deutschland seinen Ruf als Vorreiter im globalen Klimaschutz. Der Begriff „Energiewende-Paradox“ kommt auf: Mit jährlich 20 Milliarden Euro Subventionen durch die Stromkunden schnellt der Anteil des Ökostroms im Netz auf über 40 Prozent – aber die CO2-Emissionen bleiben hoch. Der Klimaschutz hat nichts von der Energiewende. Es wird klar: Statt minus 40 Prozent erreicht Deutschland bis 2020 höchstens 33 bis 35 Prozent CO2-Senkung.
Es gibt mindestens zwei Sichtweisen auf diese Entwicklung: „Merkel ist eine Überzeugungstäterin beim Klimaschutz“, sagt Hans Joachim Schellnhuber, wenn man ihn in Potsdam besucht. Der Mann mit dem schläfrigen Blick und dem wachen Verstand ist eine graue Eminenz der internationalen Klimapolitik. Er hat das „2-Grad-Ziel“ als Maßstab der Politik entworfen, den Begriff „Heißzeit“ geprägt, weltweit die Forschung vorangetrieben und Regierungen beraten. Jetzt ist er pensioniert, hat aber immer noch ein bescheidenes Büro am PIK und viel zu tun. Auf dem Flur steht ein mannshoher Globus, der seit Jahren kaputt ist und nicht repariert wird. Ein Schild warnt „Zerbrechlich – vorsichtig behandeln“, Journalisten lieben diese Symbolik. Schellnhuber hat dem Papst erklärt, was gerade im Himmel passiert, auf Klimakonferenzen gelitten und 25 Jahre lang Merkel beraten. „Da, wo Sie Platz genommen haben, saß sie im Juni bei ihrem letzten Besuch“, lässt er ins Gespräch einfließen.
Schuld ist das System
Schellnhuber sagt, die Kanzlerin habe sich nur in Ausnahmefällen gegen „das System der fossilen Extraktionswirtschaft“ durchsetzen können. Das „System“ ist für den Wissenschaftler das Geflecht aus Parteien, Gewerkschaften und Lobbys. Als Frau, als Ostdeutsche, als Naturwissenschaftlerin ist sie für ihn ein „glücklicher Ausnahmefall“, die „immer nach Lücken im System gesucht hat.“
Orte des Klimawandels
Die Kanzlerin als Gefangene „des Systems“? Manches spricht dafür. Merkel fehlen immer Koalitionspartner, denen das Thema wichtig ist. Sie hat eine Partei und Fraktion hinter (oder gegen) sich, die Klimaschutz „nicht mit der nötigen Konsequenz verfolgt hat“, wie es Andreas Jung vorsichtig formuliert. Jung ist CDU-Abgeordneter im Bundestag, einer der ganz wenigen ökologisch Interessierten der Fraktion, jetzt aber zuständig für Frankreich und Finanzen. Die eigentlichen Öko-Posten bei der Union, etwa im Umwelt- oder Energieausschuss, besetzen andere, die nicht unangenehm durch grüne Gedanken auffallen. „Die werden von der Fraktion mit dem Auftrag in den Umweltausschuss geschickt, dass da nichts passiert“, sagt ein hochrangiger Beamter.
Ihrer Fraktion mutet Merkel über die Jahre vieles zu: das Ende der Wehrpflicht, den Atomausstieg, die Euro-Rettung, ihre Flüchtlingspolitik. Hat sie ähnlich für ihre Klimapolitik gekämpft? Davon ist nichts bekannt. „In der Fraktion herrschte manchmal eine unglaubliche Stimmung gegen die Energiewende“, sagt Josef Göppel, der 15 Jahre lang für die CSU im Bundestag der einsame Öko-Rufer war. Ein ökologisch orientiertes Gegengewicht zur lautstarken Gruppe der Wirtschaftspolitiker gab es nie. Auch in der Partei habe Merkel „das Thema völlig schleifen lassen“, kritisiert Göppel. Als die neue Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer im Frühjahr 2019 nach CDU-Umweltexperten sucht, findet sie erst mal: niemanden.
Neuartige Allianzen werden gebraucht
Am 3. April 2019 trifft sich abends im Kanzleramt eine illustre Runde: Etwa 20 Personen hat die Bundeskanzlerin zu einem „Ehren-Essen“ geladen. Es ist ihr Dank an Hans Joachim Schellnhuber zum Ruhestand. Es gibt Poulardenbrust und Weißwein. Die Gäste, darunter der Regisseur Volker Schlöndorff, SPD-Finanzminister Olaf Scholz und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, debattieren über Klima und Nachhaltigkeit. Merkel, so erzählen Teilnehmer, schildert freimütig, wie schwierig Fortschritte seien. „Wie können wir Ihnen helfen?“, fragt ein Teilnehmer. „Bilden Sie überraschende Allianzen“, sagt die Kanzlerin.
Merkel weiß, dass sie auch selbst in der Klimapolitik so arbeiten muss. 2007 unterstützt sie den Unternehmer Michael Otto („Otto-Versand“), als der die Unternehmenslobby „Initiative 2 Grad“ für Klimaschutz aufbaut. 2019 spannt sie den konservativen Chef der „Wirtschaftsweisen“ Christoph Schmidt mit Schellnhubers Nachfolger Ottmar Edenhofer für ein Gutachten zum CO2-Preis zusammen. Und weltweit macht sich Merkel in überraschenden Allianzen für Klimaschutz stark. 2015 schmuggelt sie den Begriff „Dekarbonisierung“ in das Abschlussdokument der G7 beim Gipfel in Elmau, das sich dann im Pariser Klima-Abkommen wiederfindet. Im gleichen Jahr bestellt sie bei der OECD ein dickes Gutachten darüber, wie gut Klimaschutz für die Wirtschaft ist. Und: Deutschland ist immer ein verlässlicher Partner, wenn es um Finanzen für den weltweiten Klimaschutz geht.
„Wenn der Druck zu groß wird und sie etwas tun muss, legt sie bislang entweder Geld oder ein Langfristziel auf den Tisch“, sagt Martin Kaiser. Der knorrige Franke mit dem lauten Lachen ist inzwischen Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland. Lange hat er die Klimapolitik der Regierung eng begleitet und kritisiert. Er ist mehr der Typ Fleecejacke und Protestplakat als mit Schlips und Smalltalk beim Häppchen-Empfang. Kaiser war stets auf Distanz zur Kanzlerin. Für ihn hat sie „immer die deutsche Industrie geschützt“. Klima „war für sie nur eines von vielen Themen, das man managen muss“, widerspricht Kaiser denen, die das eine „Herzenssache“ bei ihr nennen. „Sie wollte in den letzten zehn Jahren nicht mehr erreichen, sonst hätte sie das gekonnt.“
Auch für Merkel gilt: Deutschland zuerst
Für Berater und Mitarbeiter dagegen ist das eine Frage der Organisation: „Jeder Kanzler ist darauf angewiesen, dass sein Apparat strategisch solche Ziele verfolgt“, sagt einer. „Das war beim Klima nie der Fall. Die denken da nur taktisch, nicht strategisch“ Aus dem Bundeskanzleramt sei keine Strategie gekommen, keine gemeinsamen Vorgaben an die Ministerien, keine Führung. „Beim Klima hat sie keine Leadership gezeigt“, meint ein anderer Berater. Dafür sei die Kanzlerschaft aber da: „Führerschaft heißt ja auch, das Umfeld zu schaffen, in dem man weitergehen kann“, sagt auch CDU-Mann Klaus Töpfer, einst Kohls Umweltminister und Chef des UN-Umweltprogramms Unep.
Auch in Europa ist die Bilanz gespalten. „Merkel hat mitgeholfen, den Klimaschutz durchzusetzen, solange keine deutschen vitalen Interessen betroffen waren“, erinnert sich Claude Turmes, Umweltstaatssekretär von Luxemburg und lange Jahre Energieexperte der Grünen im Europaparlament. Er hat Merkel oft in Brüsseler Verhandlungsrunden erlebt. „Sie konnte auch in letzter Minute Kompromisse umwerfen, wenn die Energie- oder Autoindustrie interveniert hat“.
Praktisch alles, was in der deutschen Klimapolitik heute funktioniert, kommt inzwischen aus Brüssel: Der Emissionshandel, die CO2-Grenzwerte für Autos. Vor allem aber die Regeln zu den Bereichen Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft. Hier sind die Ziele ab 2021 so streng formuliert, dass Deutschland entweder tiefe Einschnitte beim CO2 machen oder viel Geld zahlen muss.
Endlich eine Welle, die sie reiten kann
Diese Regel wurde ursprünglich 2014 beschlossen, 2018 konkretisiert. In Berlin hat man sie lange ignoriert. Im Sommer 2018 warnen die ersten Gutachten: Da kommen bis 2030 Strafzahlungen von vielleicht 60 Milliarden Euro auf Deutschland zu. Das Finanzministerium und der Haushaltsausschuss des Bundestages können damals dazu nichts sagen. Auch im Kanzleramt löst die EU-Regelung erst 2019 „einen Schock“ aus, sagt ein Mitglied der Regierung. Merkel lässt sich darüber genau informieren. Sie gründet das „Klimakabinett“. Schön, sagt der Ökonom Ottmar Edenhofer, „aber das hätten wir schon viel früher gebraucht.“ Es hätte vielleicht die „irrsinnige Entscheidung verhindert, ab 2011 noch zehn neue Kohlekraftwerke in Deutschland zu bauen“.
Zwei heiße Sommer, die Stärke der Grünen, verlorene Wahlen in Bayern, Hessen und Europa, jedes Wochenende zigtausende Fridays-for-Future-Demonstranten in den Straßen, dazu die Drohungen aus Brüssel. Im März lobt Merkel in ihrem Podcast: „Ich unterstütze sehr, dass Schülerinnen und Schüler für den Klimaschutz auf die Straße gehen und dafür kämpfen“ – dabei demonstriert die Jugend auch gegen sie. Im Juni fordert sie von ihrer Fraktion „Schluss mit Pillepalle“ beim Klimaschutz. Sie lässt sich am PIK zwei Stunden lang in kleiner Runde über die neuesten Horrordaten informieren. Selbst der bayerische CSU-Ministerpräsident Markus Söder überschlägt sich inzwischen mit Öko-Vorschlägen. Die Frontlinie heißt jetzt: Merkel mit den „Fridays“, den wenigen Ökos in der Union und den SPD-Ministern für Umwelt und Finanzen gegen ihre eigene Fraktion und Partei. Überraschende Allianzen.
Hinter der Kanzlerin hat sich eine grüne Welle aufgebaut, auf der sie nun reiten will. „Die Zeit ist für sie einfach reif“, hofft ein hoher Beamter. „Die Leute erwarten, dass wir etwas tun“, sagt der CDU-Abgeordnete Andreas Jung, der plötzlich als Fachmann für Umwelt und Finanzen in der CDU wieder gefragt ist. Wenn es ihre Strategie war, den Druck von außen so stark werden zu lassen, dass sie nun endlich trotz Widerständen im eigenen Lager handeln muss, war diese Strategie vielleicht genial. Vielleicht wird Angela Merkel aber nun einfach von ihrem Tun – und Nichttun – eingeholt.
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