: Klein: Kohl war auch dabei
■ Regierungssprecher spricht über laufenden Kontakt des Kanzlers mit Gorbatschow im Vorfeld der Sonderzug-Aktion / Kanzleramtschef Seiters verspricht auch weiter offene Botschaften / Alle loben Genscher
Bonn (afp/dpa/ap) - Nach der überraschenden Sonderzug-Aktion für mehr als 6.300 Flüchtlinge in den Bonner Botschaften in Prag und Warschau suchte die Bundesregierung am Montag in Kontakten auf allen Ebenen mit der DDR, der Tschechoslowakei und Polen nach einer humanitären „Nachfolge-Regelung“ für die inzwischen nachgeströmten über 1.000 DDR-Flüchtlinge. Der Staatssekretär im innerdeutschen Ministerium Priesnitz wollte gestern den Honecker-Vertrauten in West-Berlin treffen.
Der sowjetische Staats- und Parteichef war offenbar über die Einzelheiten der Ausreise der Flüchtlinge aus den bundesdeutschen Botschaften informiert. Regierungssprecher Klein bemühte sich am Montag in Bonn, den Anteil des kranken Kohl an der Sonderzug-Aktion zu unterstreichen. Kanzler Kohl habe Gorbatschow zuletzt am Freitag vergangener Woche eine Botschaft zukommen lassen. Die Antwort hierauf sei am Sonntag eingetroffen. „Die Errichtung solcher unmittelbaren Kontaktmöglichkeiten war bei dem Kanzler-Besuch im Oktober letzten Jahres in Moskau vereinbart worden“, erinnerte Klein. Über Inhalte der Kontakte machte Klein keine Angaben. Kohl erholt sich zur Zeit an seinem Heimatort Oggersheim von einer Prostata-Operation.
Die Gespräche, die Außenminister Hans-Dietrich Genscher am Rande der UNO-Vollversammlung in New York mit seinen Kollegen geführt habe, seien mit dem Bonner Regierungschef ebenso abgestimmt gewesen wie diejenigen von Kanzleramtsminister Rudolf Seiters in der Bundeshauptstadt, betonte der Sprecher Klein weiter. Kohl spreche beiden Politikern besonderen Respekt und Anerkennung für ihren „großen persönlichen Einsatz und für die umsichtige, behutsame, aber beharrliche Verhandlungsführung mit ihren jeweiligen Gesprächspartnern“ aus. Genscher hatte am Rande der UN-Vollversammlung bei seinen Amtskollegen aus der UdSSR, der USA, der CSSR, der DDR und Polens alle Hebel zugunsten der Flüchtlinge in Bewegung gesetzt, Seiters hatte in Bonn mit DDR-Anwalt Vogel gesprochen.
In einem NDR-Interview versicherte Seiters am Montag ebenso wie der Sprecher des Auswärtigen Amts, Jürgen Chrobog, daß Zufluchtsuchende in den Botschaften weiter aufgenommen werden. Seiters betonte: „Diese Republik baut keine Mauern um die eigenen Botschaften.“ Chrobog kündigte „schärfsten Protest“ in Prag für den Fall an, daß Berichte über Knüppeleinsatz von CSSR-Beamten gegen Fluchtwillige bestätigt werden. Die tschechoslowakische Regierung hatte am Sonntag nach Intervention des Amts freien Zugang zur Vertretung zugesichert.
Regierungssprecher Klein kündigte an, daß Genscher bei der EG-Ministerratssitzung am Dienstag in Luxemburg seine Amtskollegen über den Zustrom von DDR-Zufluchtsuchenden unterrichten wird. Dabei werde er auch die Erwartung Bonns auf gemeinsame Bemühungen der Gemeinschaft „in dieser historischen, für die Zukunft ganz Europas entscheidenden Entwicklung ausdrücken“. In der Direktoren-Runde des Auswärtigen Amts am Montag hatte Genscher versichert, die Bundesregierung werde Kurs halten mit ihrer Politik des Dialogs, der Zusammenarbeit und Verständigung. Zur Unterstützung der Reformer sei ein Plan europäischer Solidarität erforderlich. SPD und Grüne dankten Genscher für seinen Einsatz für die Flüchtlinge. Die SPD würdigte ferner das Entgegenkommen Ost-Berlins, das die Sonderzug-Aktion möglich gemacht hatte. Grundsätzlich seien aber Reformen in der DDR notwendig, so Bundesgeschäftsführerin Fuchs.
Der Exodus von Tausenden von DDR-BürgerInnen über die Bonner Botschaften in Warschau und Prag in die Bundesrepublik beherrscht die ausländischen Medien. Während die westeuropäischen Zeitungen die Ausreise der DDR -BürgerInnen in die Bundesrepublik als einen Triumph der Diplomatie werten und einstimmig Reformen in der DDR fordern, halten sich die osteuropäischen Medien weitgehend bedeckt. Die Sowjetunion hat bis Montag keinen Kommentar abgegeben.
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