Kita-Schließungen sind falsch : Weniger Schüler, mehr erfolgreiche Schüler!
Der Rückgang der Kinderzahlen ist unabwendbar, aber kein Drama. Er ist eine Chance zum Einstieg in eine große Bildungsreform, die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts genügt. Eine Skizze.

taz FUTURZWEI | In den Jahren 2023, 2024 und 2025 wurden in Berlin 83 Kindertagesstätten wegen Kindermangels geschlossen.
Die Zahl der Kinder unter Fünf in der Stadt ist in diesen Jahren um 5,85 Prozent gesunken. 2024 wurden in Berlin 5.200 Kinder weniger geboren als 2020.
Die Zahl der in Berliner Kitas betreuten Kinder ist von 7.000 auf 6.000 Kinder zurückgegangen. Der Berliner Senat hat erklärt, dass noch nicht von einer Schließungswelle gesprochen werden könne, Entlassungen von Erziehern habe es bisher nicht gegeben.
In der letzten Woche wurde der IQB-Bildungstrend 2024 veröffentlicht. Das Institut zur Qualitätsenwicklung im Bildungswesen wurde 2004 von allen Ländern gegründet und wird von ihnen finanziert. Es ist an der Humboldt Universität in Berlin angesiedelt. Es veröffentlicht jährlich eine vergleichende Überprüfung der Bildungsstandards in den Bundesländern.
Für 2024 wird festgestellt, dass nur 9 Prozent aller Neuntklässler die Mindestanforderungen in Mathematik, Physik und Biologie erreichen, 34 Prozent verpassen die Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss. 2023 wurde ein ähnlicher Kompetenzeinbruch für Deutsch nachgewiesen.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°34: Zahlen des Grauens
Die weltweiten Ausgaben für Rüstung betragen 2700 Milliarden Dollar im Jahr, ein 270stel davon wird weltweit gegen Hunger investiert. Wir präsentieren Zahlen des Grauens und plädieren gerade deshalb für Orientierung an Fakten statt an Talkshow-Aufregern.
Mit: Matthias Brandt, Dana Giesecke, Maja Göpel, Wolf Lotter, Armin Nassehi, Sönke Neitzel, Katja Salamo und Harald Welzer.
Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass die Leistungsrückschritte alle Schüler betreffen, unabhängig von ihrem sozialen oder familiären Hintergrund. Ein Zusammenhang zwischen den gestiegenen Schülerzahlen mit Migrationshintergrund und den Leistungsabfällen ist nicht nachweisbar.
In der Studie wird eigens darauf hingewiesen, dass „Jugendliche der ersten Generation mit Migrationsgeschichte in Mathematik sogar bessere Ergebnisse erzielen als Schüler ohne Zuwanderungshintergrund, wenn sie gut genug deutsch sprechen.“
In Berlin hat der Senat (CDU/SPD) die Zugangsregeln für die Gymnasien verschärft. Für eine Gymnasialeignung zählen nur die Noten in Deutsch, Mathematik und der ersten Fremdsprache. Wer 14 Punkte erreicht, darf sich an einem Gymnasium bewerben, An „übernachgefagten“ Gymnasien, Sekundar- und Gemeinschaftsschulen zählen weiterhin alle Schulnoten.
An diesen Schultypen fehlt es aber an Plätzen, was zu übergroßen Klassen führt. Zusammengefasst kann man sagen: Der Senat hat für alle Kinder, die es nicht aufs Gymnasium schaffen, einen Flaschenhals eingerichtet, der die Durchlässigkeit zu höherer Schulbildung massiv einschränkt.
Bildungspolitik ohne Kompass
Niedrigere Kinderzahlen, die zu Kitaschließungen führen, Leistungsabfälle bei allen Schülern in allen Bundesländern – außer in Hamburg – und Erschweren des Zugangs zu den Gymnasien in Berlin sind Momentaufnahmen einer Bildungspolitik ohne Kompass. Dabei böten sich Chancen für einen Neuanfang, wenn die demographischen Tatsachen als Planungsgrundlage genutzt würden. Mit weniger Schülern insgesamt könnte mit dem heutigen Ausbaustand Bildungsgerechtigkeit für viel mehr Schüler geboten werden.
■ Udo Knapp ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für unser Magazin taz FUTURZWEI.
Würden die jährlichen Geburtenzahlen als Planungsbasis fürs Bildungssystem genutzt, wüssten die Bildungspolitiker und alle Bildungsplaner, wieviel Kitaplätze, wieviel Grundschulen, wieviel weiterführende Schulen, wieviel Studienplätze, wieviel Erzieher, Lehrer und Sozialarbeiter - wann und sogar wo - gebraucht würden.
Wenn dabei Bildungsgerechtigkeit für alle der entscheidende Parameter der Planung wäre, könnte mit den vorhandenen Kitas, Schulen, Erziehern und Lehrern flexibel und qualitätsverbessernd auf die niedrigeren Schülerzahlen reagiert werden, anstatt in einem teuren Auf und Ab von Schließen und Neuanfangen hin und her zu taumeln. Wenn dazu noch datengestützte Qualitäts-Standards für jeden einzelnen Schüler über dessen ganze Schulkarriere hinweg erhoben und in speziell angepasste Angebote übersetzt würden, dann könnte – verbunden mit einer höheren Unabhängigkeit der Schulen gegenüber dumpfen Einhalten der Lehrpläne – für jedes einzelne Kind befriedigende Bildungswege ausgewiesen werden.
Niemand würde zurückgelassen, jeder wäre wichtig, für jeden gäbe es seinen Lern- und Entwicklungspfad. Lerndefizite, wie sie gerade wieder gemessen werden, könnten von Beginn an vermieden werden.
Von einer solchen Perspektive ist die Bildungspolitik der Länder, von Hamburg abgesehen, weit entfernt.
Die große Bildungsreform
Dabei könnte es sofort und ohne viel Aufsehen bei den Kitas mit der großen Bildungsreform losgehen. Anstatt mit Schließungen, bald auch Entlassungen von Erziehern, mit dem Aufgeben der kostbaren Kitainfrastruktur auf den Kinderrückgang zu reagieren, könnte eine Kitapflicht für alle Dreijährigen eingeführt werden und für jedes Kind eine digitale Bildungsakte aufgelegt werden, in der seine Defizite und Fortschritte fortlaufend dokumentiert würden.
In der Kita könnte Deutschlernen das erste regelmäßige Lehrfach für alle Kinder werden, sodass auch alle Kinder beim Schulbeginn gute Deutschkenntnisse mitbringen würden. Ganz aktuell könnte, um zunächst einmal Schließungen erfahrener Kitas zu vermeiden, der Betreungsschlüssel pro Erzieher von jetzt 6 auf 4 Kinder gesenkt werden. Wenn dann immer noch Erzieher übrig bleiben, könnten sie in den Schulen als Assistenten für die Lehrer eingesetzt werden.
In den Schulen könnten die Schülerzahlen in den Klassen reduziert und grundsätzlich zwei Lehrer in jeder Klasse eingesetzt werden, damit den individuellen Voraussetzungen fürs Lernen und Entwickeln weiter entsprochen werden kann. Für jeden Schüler wird dann auf Grundlage seiner Bildungsdaten der für ihn und seine Fähigkeiten optimalste Schul- und Bildungsweg ausgelegt.
Das Gymnasium als ausgrenzende Eliteschmiede würde nicht mehr gebraucht. Stattdessen würde es, wie die Gesamtschulen, möglichst viele Kinder ohne irrationale, elitäre Ausgrenzung aufnehmen, vollumfänglich ausbildungs- oder studierfähig entlassen und so Teil einer Bildungsarbeit werden, von der die ganze Gesellschaft profitieren könnte.
Der Rückgang der Kinderzahlen ist unabwendbar, aber kein Drama. Er ist eine Chance zum Einstieg in eine große Bildungsreform, die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts genügt, in dem breite Bildung zur zentralen Produktivkraft heranwächst, und die Schulen zu Orten geliebter Selbstentfaltung jedes Kindes werden kann.
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