Kinotipp der Woche: Auf dem Brötchen-Planeten
Die Reihe „Ungarische Neo-Avantgarde im Film“ bietet vergnügliche Blitzlichter auf die Geschichte des ungarischen Experimentalfilms.
Gemächlich zieht das Croissant am altbackenen Brötchen vorbei, das in Ottó Fokys „Babfilm“ (Bohnenfilm) von 1975 beim Blick aus dem Weltall als Planet auftritt. In Fokys Film beobachtet ein metallenes Huhn per Kamera aus dem Weltall das Treiben auf dem Brötchen-Planeten, der ausschließlich von Bohnen bewohnt wird.
Zwischen alten Merci-Schokoladen- und Cognac-Packungen zieht der Straßenverkehr dahin als eine Bohne von einer Sardinendose angefahren wird. Zwei Bohnen rauben Schmuck, werden jedoch von einer dritten gestellt. Auf der Flucht scheitern sie an einem Kamm, der als Zaun fungiert. Tausende von Bohnen feuern zwei Mannschaften fußballernder Bohnen in einem Stadion an.
Fokys Film ist ein Klassiker des ungarischen Animationsfilms. Am Sonntag läuft er im Kino Arsenal im zweiten von zwei Programmen mit Filmen der ungarischen Neoavantgarde der 1960er und 1970er Jahre. Das Filmprogramm beschließt die Ausstellung „Magyar Neo-Avantgarde“ im Collegium Hungaricum Berlin, die noch bis Freitag zu sehen ist.
Die Ausstellung und die beiden Filmprogramme zeigen den Anschluss der ungarischen Kunst- und Filmszene an avantgardistische Bewegungen der klassischen Moderne und aktuelle internationale Tendenzen. Auf filmischer Seite war hierfür das Balázs-Béla-Filmstudio als Freiraum von zentraler Bedeutung.
Ungarische Neo-Avantgarde im Film, Sa., 28..1. + So., 29. 1., je 20 Uhr im Kino Arsenal; Ausstellung bis 27. 1. im Collegium Hungaricum Berlin
Dort entstand 1963 auch István Bácskai Laurós kurzer Dokumentarfilm „Igezét“ (Der Bann). Rote glühende Streifen schlängeln unter einem Gitter hervor, aus dem Hintergrund dringen Rufe. Zwei Stahlarbeiter eilen herbei und ziehen den glühenden Stahl an Zangen hinter sich her zu einer Spule. Breitwandfilm, Farbe – Bácskai Lauró und Kameramann János Tóth schwelgen in ihrem Film in imposanten Bildern der Stahlherstellung.
Sie kombinieren diese Bilder mit Aufnahmen von Proben zu klassischer Musik. Durch den Wechsel aus bewegten Bildern und Standaufnahmen, aus normaler Laufgeschwindigkeit und Zeitlupe entsteht eine komplexe Dramaturgie. Die Tonspur besteht aus moderner, atonaler Musik und Geräuschen. „Igezét“ ist eine visuelle Komposition, gewidmet der Kunst der Stahlherstellung.
Ähnlich, wenngleich deutlich verspielter, ist Zoltán Huszáriks „Capriccio“, der Kinder, die im Schnee spielen, Schneefiguren und Landschaftsaufnahmen zu einer Miniatur arrangiert über die Freuden des Winters und das Glück des Tauwetters, das auf ihn folgt. Auch an „Capriccio“ war der Mitgründer des Balázs-Béla-Filmstudio Tóth in mehreren Rollen beteiligt.
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Tóth ist das erste der beiden Programme gewidmet, das am Samstag läuft. Das zweite kreist unter dem Titel „Einzelgänge – Pop oder Kunst“ um die Wechselwirkungen zwischen Popkultur der Zeit und filmische Experimente. Die beiden Filmprogramme im Arsenal werden präsentiert von Virág Bottlik, der Filmreferentin des Centrum Hungaricums.
Bottlik hatte vor zwei Jahren eine beeindruckende, umfangreiche Werkschau der Arbeiten des Balázs-Béla-Filmstudio in Berlin präsentiert. Die beiden Filmprogramme zur ungarischen Neoavantgarde im Film sind als vergnügliche Blitzlichter auf die Geschichte des ungarischen Experimentalfilms unbedingt empfehlenswert.
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