Kinoempfehlung für Berlin: Die aus der Reihe fallen
Jochen Kraußer schuf Filme über Abweichler. Das Zeughauskino widmet dem Regisseur, der seit 1969 bei der Defa beschäftigt war, eine Werkschau.
Jochen Kraußer interessiert sich nicht nur für Menschen, die aus der Reihe fallen, sondern auch für ihre Beziehungen. Ein ganzer Film ist einer solchen Begegnung gewidmet: „Tisa und Jens-Peter. Eine Freundschaft“ von 1994. Er handelt von einer zarten Komplizenschaft, in der gleichsam Platz für ein Aufschauen ist.
Der Jugendliche Jens-Peter schwärmte einst für den Widerstandskämpfer Fritz-Dietlof von der Schulenburg; ein Zitat ist dem Film vorangestellt: „Vor der Ewigkeit zählen nur die Augenblicke, wo man geflogen, nicht wo man schwer einhergetrottet ist.“
Jens-Peter schreibt in seinem Tagebuch über von der Schulenburg. Der Vater, ehemaliger Polizist, entdeckt das Buch, liest darin, ist zunächst fasziniert, dann schockiert. So wie der Sohn, als er erfährt, dass der Vater in seinem Intimsten geschmökert hat.
Jochen Kraußer, der seit 1969 bei der Defa beschäftigt war und bis 1990 bei ihr blieb, beginnt „Tisa und Jens-Peter“ mit diesem familiären Bruch. Diesem Eindringen, das andererseits Platz für Neues schuf: Denn dort, wo ein Band gerissen war, reißen musste, bot sich plötzlich Raum für andere Menschen. Ein solcher Mensch ist Tisa. Tisa von der Schulenburg, Schwester Fritz-Dietlofs, die als einzige der Familie Nazi-Deutschland überlebte, nach England ging, Künstlerin wurde und dann Nonne.
„Abweichungen“ – Dokumentarfilme von Jochen Kraußer, Zeughauskino, Unter den Linden 2, 9. bis 18. Januar
Sie, genauso wie Jens-Peter, sind typische Figuren im Werke Jochen Kraußers, dessen Erschließung alle auf dem Zettel haben sollten, die sich als Abweichler begreifen oder solche schätzen. Und „Abweichungen“ ist dann auch die Schau im Zeughauskino überschrieben, die zwischen dem 9. und 18. Januar einen umfänglichen Einblick in Kraußer Arbeit gewährt. Jens-Peter und Tisa jedenfalls freunden sich an. Zunächst über Briefe, die sie einander schreiben, schließlich treffen sie sich auch.
Über nicht viele, aber doch einige Jahre ist zu beobachten, wie Jens-Peter, möglicherweise auch angeschoben von den Unterhaltungen mit Tisa, seinen eigenen Weg entfaltet. Er studiert Kunst, besucht Tisa im Kloster, die Gespräche sind tief, doch nicht abgehoben.
Der junge Mann solle sich ein wenig „Wind um die Ohren“ wehen lassen, meint die alte Dame. Notfalls auch mal draußen schlafen. Auf einem Dampfer anheuern. Rausgehen eben. Jens-Peter fährt dann nach unten, zu den Bergleuten, und zeichnet sie. Gegen Ende des Films ist er Mitte zwanzig und stellt fest, dass er noch nicht viel über sich weiß.
Jochen Kraußer hat Jens-Peter nicht zum ersten Mal vor der Linse. In „Schloss Wiligrad“ (1992), ein seinerzeit unbekanntes Schloss in der Nähe Schwerins, lebte der Junge mit seiner Familie. Schloss Wiligrad war Ausbildungsstätte der Volkspolizei, der Vater machte hier Karriere, bis sich herausstellte, dass er Westkontakte unterhielt.
Beide Filme kommunizieren miteinander, auch wenn sie völlig unterschiedlich angelegt sind. Ähnlich geschieht es in „Leuchtkraft der Ziege“ (1987) und „Bilder einer Ausstellung“ (1988). Entgegen „Tisa und Jens-Peter“ oder „Schloss Wiligrad“ steht hier Kraußers Blick für Skurriles, Sonderbares, ja, Dadaistisches im Vordergrund.
Mittelpunkt von „Leuchtkraft der Ziege“ ist ein Dorf in Thüringen, in dem ein Film gedreht werden soll. Hierhin verschlägt es nicht nur einen hageren Fan mit Kamera, der das Geschehen dokumentieren möchte, sondern ebenfalls eine Kindergartengruppe, einen Bahngleis-Streckenläufer und eben eine Ziege. Teil ist außerdem „das erste Fahrrad der Welt“, welchem erneut in „Bilder einer Ausstellung“ zu begegnen ist. Letzterer beginnt mit den schönen Worten, vorgetragen von einem Kind: „Wir bitten um Ihr Verständnis.“
Online statt Print: Weil die Kulturbeilage taz plan in der gedruckten Ausgabe wegen des Corona-Shutdowns gerade pausiert, erscheint hier nun jeden Donnerstag ein Text vom „taz plan im exil“. Zuletzt: 2. 4. Stephanie Grimm/Musik: „Jeder Tag ist wie Sonntag“ & 9.4. Esther Slevogt/Theater: „Der Bildschirm als Bühne“
Absurd wie liebevoll geht es auch in „Bruno Greiner Petter – Genannt ‚der Bimmel‘“ (1979) zu, dem Porträt eines alten Kunstglasbläsers. Jochen Kraußer besucht ihn in seiner verschneiten Heimat, die er nie verlassen hat, lässt sich die ein oder andere Geschichte andrehen, eine Akkordeon-Sammlung zeigen und erfährt, dass Bimmel zu Kindertagen mit heißen Kartoffeln in der Tasche zur Schule geschickt wurde, um sich an ihnen die Hände zu wärmen.
Die ausgekühlten verzehrte man später als „Delikatesse“. „Wind sei stark“ (1990) handelt indes von drei „Windraderbauern“. Einer von ihnen hat ein Fleckchen Grün direkt an einer vielbefahrenen Berliner Straße gepachtet. Trotz Schmutz und Lärm findet er Entspannung – auch dank einer Erfindung, mit der er kalte Flaschen Bier aus einem zwei Meter tiefen Erdloch zaubert. Ein anderer Erbauer hat sich neben sein Haus ein waschechtes Windrad zur Stromerzeugung konstruiert. Die mit ihm gewonnene Energie bringt alle Glühbirnen zum Glimmen.
Es ist ein langer Strom dieser Art Geschichten, die sich in „Abweichungen“ offenbaren. Sie alle sind von Jochen Kraußer mit viel Humor, Verstand und Empathie aufbereitet. Einige besaßen, wie „Leuchtkraft der Ziege“, sogar Kultstatus in den Filmclubs Ostdeutschlands. Und das zu Recht.
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