Kino-Festival in Bologna: Starke Filme aus düsteren Zeiten
20 Schwerpunkte und trotzdem stürzt sich das Publikum voll Entdeckerfreude auf die Schätze des Festivals Cinema Ritrovato in Bologna.
Wie lange sind Untergebene ihrem Herrscher Rechenschaft schuldig? „The Abe Clan“, ein japanischer Historienfilm von 1937, gibt darauf eine radikale Antwort: Die Mitglieder einer japanischen Samurai-Dynastie halten ihrem Anführer nicht nur bis zu dessen Tod die Treue, sondern lange darüber hinaus. Tatsächlich beginnt der wirkliche Ergebenheitstest erst mit dem Ableben des Oberhaupts: Ab jetzt geht es darum, wer ihm, um nicht vor seinen Mitmenschen das Gesicht zu verlieren, in den Tod folgen muss.
Der rituelle Selbstmord – japanisch Seppuku – wird in dem von Hisatora Kumagai mit beeindruckender karger Eleganz inszenierten Film zwar nie im Bild gezeigt, er ist aber doch der Dreh- und Angelpunkt allen Denkens und Handelns: Noch bis in die dritte Generation fühlt sich die Abe-Familie an einen Todesfluch gebunden, der, einmal ausgelöst, potenziell die ganze Welt verschlingen kann.
„The Abe Clan“, entstanden in einer Zeit, in der sich Japan auch realgeschichtlich den faschistischen Todeskulten verschrieben hatte, war eine der großen Entdeckungen des diesjährigen Cinema Ritrovato, eines Filmfestivals, das seit 1986 in Bologna stattfindet und das sich ganz der Filmgeschichte verschrieben hat: keine Tagesaktualität, kein Wettbewerb, dafür (Wieder-)Entdeckungen aus vergangenen Jahrzehnten.
Pilgerzug nach Bologna
Das Ritrovato ist längst nicht mehr nur eine Angelegenheit für Filmwissenschaftler und andere Spezialisten. Inzwischen löst es alljährlich einen regelrechten Pilgerzug (nicht nur) aus Deutschland aus: Im Ryanair-Direktflug Berlin–Bologna am Eröffnungstag waren fast nur Festivalreisende an Bord, die Atmosphäre ähnelte einer Klassenfahrt. Kein Wunder: Die Kombination aus italienischer Lebensart und entspannter cinephiler Entdeckungsfreude sucht in der Welt der Filmfestivals nach wie vor ihresgleichen.
Der erste Blick ins Programm gleicht dem Öffnen einer Schatztruhe: Will man sich lieber mit iranischen Genrefilmen der 1950er Jahre beschäftigen, mit dem italienischen Meisterregisseur Augusto Genina oder mit Robert Mitchum, einem der schon rein optisch eigenartigsten Darsteller, der es in Hollywood jemals zu Starruhm gebracht hat? Fast droht das Ritrovato angesichts solcher Überfülle aus dem Leim zu gehen – was damit zu tun haben könnte, dass das Festival seit dem Tod des langjährigen künstlerischen Leiters Peter von Bagh 2014 keinen artistic director mehr hat.
Stattdessen übernimmt eine vielköpfige Kommission die Programmarbeit. Seither fehlen ein wenig die klaren Linien: Es wird einfach immer noch mehr ins enge Programmschema gepresst. Dieses Jahr präsentierte das Festival ganze 20 Programmschwerpunkte, viele davon konnten kaum ein eigenes Profil entwickeln. Vielleicht wäre es an der Zeit, die Verantwortung doch wieder in eine einzelne Hand zu legen.
Geheimtipp Helmut Käutner
Auch der deutsche Regisseur Helmut Käutner wäre es wert gewesen, mit mehr als nur acht seiner über 30 Langfilme im Programm vertreten zu sein. Dennoch entwickelte sich die ihm gewidmete Sektion in Windeseile zum Geheimtipp und war bald hoffnungslos überlaufen. Was umso erstaunlicher ist, als Käutner zu jenen Regisseuren zählt, die einem filmhistoriografischen Vatermord zum Opfer gefallen waren: Von dem Unterhaltungskino der 1940er und 1950er Jahre, zu dessen herausragenden Vertretern Käutner zählt, wollten spätere Generationen deutscher Filmemacher und -kritiker lange Zeit wenig wissen. Das beginnt sich langsam zu ändern, nicht zuletzt dank Veranstaltungen wie dem Cinema Ritrovato.
Käutner, Jahrgang 1908, hatte bereits in der Nazizeit als Regisseur begonnen. Tatsächlich gründete sein Ruhm lange auf einer Reihe von poetischen Melodramen aus den frühen 1940er Jahren, die weit weniger unpolitisch sind, als man zunächst annehmen könnte.
Im umwerfend schönen St.-Pauli-Film „Große Freiheit Nr. 7“ (1943) wird der Krieg zwar mit keinem Wort erwähnt; dennoch ist der Film spürbar von einer existenziellen Verzweiflung durchweht und das Gesicht des Hauptdarstellers Hans Albers scheint sich mehr und mehr in eine wächserne Maske zu verwandeln.
Noch interessanter ist Käutners Nachkriegswerk. Der außerordentlich produktive Regisseur brachte oft mehrere Filme pro Jahr in die Kinos und erwies sich dabei als ein ungemein wandelbarer, ehrgeiziger Filmemacher, der mit jedem Film eine neue Herausforderung suchte. So zeigt etwa der formal erstaunliche Spionagethriller „Epilog – Das Geheimnis der Orplid“, dass der große Melodramatiker Käutner auch wunderbar hysterische B-Movies drehen konnte.
Die Angst zukünftiger Witwen
„The Abe Clan“ wiederum war Teil einer Reihe zum japanischen Kino der 1930er Jahre. Gezeigt wurden Filme mit historischen Sujets, in der Mehrzahl mit ausgesprochen düsteren Perspektiven. Ein idealer Komplementärfilm zu Kumagais Meisterwerk ist der niederschmetternde „Flowers Have Fallen“. Wo die Selbstzerstörungsmaschinerie, die „The Abe Clan“ in Gang setzt, fast komplett von Männern dominiert ist, zeigt Tamizo Ishidas sensibles Drama die Gegenseite: Frauen, die in einem Tokioter Vergnügungsviertel verunsichert und verängstigt ausharren, während die Männer draußen vor der Tür sich gegenseitig umbringen.
Den äußerlichen Beschränkungen, die den Alltag der Geishas prägt, entspricht ein innerer, emotionaler Reichtum, eine psychologische Verfeinerung, die sich letzten Endes freilich als ebenso destruktiv erweist wie der Ehrbegriff der Männer vom Abe Clan.
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