Kinderklamotten und Geschlecht: Sternchen, lass uns shoppen
Wenn wir Kindern T-Shirts kaufen, hüllen wir sie in Geschlechterklischees, sagt Forscherin Petra Lucht. Ein Spaziergang durch Textil-Discounter.
Berlin taz | Feiner Nieselregen in Berlin-Mitte – perfektes Einkaufswetter. Im Eingangsbereich des ersten Textil-Discounters, den wir für unseren Spaziergang betreten, wuselt es vor Menschen. Sie strömen vorbei an vier Schaufensterpuppen, die sich zu einer Kleinfamilie gruppieren. Die Puppenmama trägt wie ihre Tochter Leggins und Rock, der Puppenjunge wie sein Vater Hemd und Jeans. Über das Familienbild im Schaufenster sagt Petra Lucht etwas, was sie an diesem Abend noch einige Male wiederholen wird: „Das ist ein idealisiertes Familienbild, das vielfach nicht der gesellschaftlichen Realität entspricht.“
Lucht, 48, ist Gastprofessorin an der Technischen Universität Berlin. In den Kinderabteilungen zweier großer Textilketten, so die Abmachung, soll die Soziologin und Genderforscherin nachprüfen, was ihre Studierenden bei online gehandelten Produkten festgestellt haben: T-Shirt-Hersteller drucken stereotype Geschlechterklischees auf Kinderkleidung – egal in welchem Preissegment. Auf Mädchen-T-Shirts ist „sweet“, „little“ oder „happy“ zu lesen, auch „Stern“ oder „Prinzessin“ sind zu finden. Auf T-Shirts für Jungen steht hingegen „crazy“, „wild“, „strong“ und oft „Rebel“ oder „King“. „Ich bin gespannt, welche Sprüche wir finden“, sagt Lucht, brünett, waldgrüner Mantel, und stiefelt los.
In der Kinderabteilung ist auf der einen Seite die Kleidung für Jungs, auf der anderen die für Mädchen untergebracht. Je fünf T-Shirts pro Discounter soll Petra Lucht willkürlich heraussuchen. Es gibt nur eine Regel: Klassische Merchandise-Motive wie „Star Wars“ oder „Hello Kitty“ sind ausgenommen.
„Dort drüben“, sagt Lucht und deutet auf die Wand, an der Rosatöne dominieren. Mädchenabteilung. Das T-Shirt, das Lucht ins Auge sticht, hängt höher als die übrige Kleidung im Raum. Den Schriftzug „I am a little star“ kann man von Weitem lesen. Er krümmt sich um einen weißen Stern. Schrift und Stern sind mit Glitzer bedruckt.
Mädchen, die träumen
Sternchenmotive sind Lucht bekannt. „Hier ist geschlechterstereotyp, dass sich der Spruch auf das Wesen des Mädchens bezieht“, sagt sie, „nicht auf das Tun oder Handeln wie bei Jungs, sondern auf seine Wünsche oder Träume.“ Deshalb käme bei Mädchen-T-Shirts auch oft das Wort „Ich“ vor, wie ihre Studierenden herausgefunden haben. Am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG) leitet die Soziologin ein Seminar, in dem die Studierenden den Alltagsbezug selbst herstellen müssen.
Im vergangenen Semester kamen sie beim Thema „Schönheit und Mode“ darauf, Sprüche auf Kinder-T-Shirts auf Geschlechterbilder hin zu untersuchen. Jemand erinnerte sich an den Shitstorm, der 2013 gegen das Versandhaus Otto losbrach, als es ein Mädchen-T-Shirt mit dem Aufdruck „In Mathe bin ich Deko“ anbot. Sexistisch, sagten die einen. Nicht so schlimm, die anderen. Letztlich nahm Otto das T-Shirt aus dem Sortiment. Könnte man sich mal bei den anderen Onlinehändlern angucken, schlug eine Studentin vor.
Für Mädchen ist die Rolle der wartenden Schönheit vorgesehen
501 Kindersprüche haben Luchts StudentInnen analysiert. Für alle elf untersuchten Marken fanden sich stereotype Geschlechterbilder. Finden sich dieselben Stereotype auch in den großen internationalen Discountern, die auf dem deutschen Markt Jahr um Jahr wachsen? Rund 3 Milliarden Euro setzte allein der schwedische Branchenriese H&M in den ersten neun Monaten des vergangenen Geschäftsjahres in Deutschland um. Auch Primark, C&A und die Otto Group verbuchen Umsätze in Milliardenhöhe.
„Es wird der Eindruck erweckt, beim Einkauf herrsche eine freie Wahl“, sagt Lucht. Dies stimme nicht nur im Hinblick auf die zunehmende Marktkonzentration nicht. Die gesellschaftlichen Strukturen zeigen, dass es nach wie vor eine zweigeschlechtliche Zuschreibung gebe. Jungs, die Mädchenklamotten tragen wollen, fallen genauso aus der Norm wie Frauen, die ein höheres Gehalt als ihre männlichen Kollegen beziehen. „Wenn wir einkaufen, hinterfragen wir diese Zuschreibungen nicht. Sie fallen uns meist gar nicht als soziale Norm auf.“
Nach ein paar Minuten hat Lucht viele Leitbilder aus dem Seminarprojekt wiedererkannt: Schönheit, Märchen, Träume, Selbstbewusstsein. Lucht lässt das T-Shirt los und geht zur nächsten Reihe, greift ein weißes T-Shirt heraus, auf dem ein Mädchen als Ärztin im Comicstil abgebildet ist. Darunter steht „Tender, loving care“. „Eine junge Ärztin, die ihren Beruf liebt“, kommentiert Lucht und deutet auf die beiden aufgedruckten roten Herzen neben dem Gesicht der Ärztin. Care – sich kümmern. „Ein weiteres typisches Motiv“, doziert Lucht ohne sich von den befremdeten Blicken einer Frau mit Kinderwagen stören zu lassen. „Hier geht es um die Verantwortung, die die Frau in der Gesellschaft übernehmen soll.“ Kurz huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. „Ob wir so etwas auch bei den Jungs finden werden?“
Jungs, die erkunden
Auch bei den T-Shirts für Jungs wird Petra Lucht schnell fündig: Monster Trucks („Race“), gefräßige Dinosaurier („T-Rex“) und ein Kumpel („Dude“) spielen auf Team, Technik, Wettkampf und eine gefährliche Natur an. „Ah, auch ganz typisch“, sagt Lucht und bleibt vor einem T-Shirt stehen, auf dem ein Astronaut im Weltall zu sehen ist. „Get over your limits“ steht drauf. Grenzüberschreitung, Abenteuer, vielleicht Wettkampf, kommt es aus Lucht herausgeschossen. „Die Natur ist auf einmal gefährlich und technisiert. Hier wird nicht gesagt, welchen Umgang der Träger hegen soll oder was er empfinden soll. Der Astronaut begibt sich gewappnet oder beschützt in die Natur.“
Moment mal, Astronaut und Sternchen? Aktiver Eroberer und wartende Schönheit? „Ja, direkt nebeneinander gesehen könnte man das auch als komplementäres Gegensatzpaar deuten“, referiert Lucht. Die Gesellschaft hat für Mädchen die Rolle der passiven Schönheit vorgesehen: Sternchen, warte auf deinen Astronauten. Oder anders formuliert: Die Gesellschaft gewährt Männern die Freiheit, etwas zu entdecken, sich mit anderen zu messen, sich selbst zu verwirklichen. Frauen erlegt sie Verantwortung auf – für ihre Umwelt, ihre Mitmenschen. „Manche Themen ermüden mich“, sagt Lucht. „Lassen Sie uns weitergehen.“
Der zweite Discounter ist zu Fuß zu erreichen. Die Preise sind dort niedriger, die Kundschaft ist deutlich jünger. 2 Euro kostet ein T-Shirt. Hier gehen nicht die Eltern einkaufen, sondern die Teenies selbst. Im Untergeschoss schallt Hip-Hop. Für Jungs finden sich: ein Cop aus New York (“cool dude“), ein Comic-Superheld (“I am totally epic“) eine E-Gitarre (“Turn up the volume“). Das beliebteste Modell, sagt eine junge Verkäuferin, sei der Yeti und deutet auf ein orangefarbenes T-Shirt, auf dem „Abominable Snow Man“ steht. „Gibt es Jungs, die in der Mädchen-Abteilung einkaufen?“, fragt Lucht nach. Die junge Verkäuferin zögert. „Glaube ich nicht. Da ist ja alles pink.“ Ihr Blick verrät, dass sie aus der Frage nicht ganz schlau wird.
Bei den Mädchen-T-Shirts wird Petra Lucht doch noch überrascht: Auf einem sind „Homework“ und „Clean my room“ durchgestrichen. Darunter steht „shopping“. „Interessant“, sagt Lucht. „Dieses T-Shirt spielt zumindest mit den Geschlechterklischees. Der häusliche Rahmen, in denen sich Mädchen bewegen sollen, wird hier verlassen, aber wird er auch durch eine neue Zuschreibung ersetzt?“ Die neue Freiheit für Mädchen: Shoppen gehen.
Leser*innenkommentare
Cededa Trpimirović
"Die gesellschaftlichen Strukturen zeigen, dass es nach wie vor eine zweigeschlechtliche Zuschreibung gebe."
Falsch. Nicht die Zweigeschlechtlichkeit, sondern das "nach wie vor" - in den 1980ern waren Mädchen und Jungen nicht so stark getrennt. Erst jetzt ist es so, dass man - besonders für kleine Mädchen - fast nur noch rosa Klamotten bekommt und auch das Spielzeug strikt getrennt ist.
Das hat nicht einmal direkt etwas mit Sexismus zu tun (was kehrt die "weltweiten Discounter" Sexismus?) sondern mit der Wiederverwertbarkeit der Einkäufe. Ein rosa T-Shirt der Erstgeborenen kann man seinem jüngeren Sohn nun mal schlecht überziehen.
Meine Tochter trägt die Klamotten ihres älteren Bruders auf und wird ständig für einen Jungen gehalten, obwohl sie ganz klar weibliche Gesichtszüge hat. Aber sie trägt Denim-Blau (Indigo!) , das verwirrt ALLE.
Wirklich ALLE.
Noch mal: ALLE.
Es ist zum verrückt werden!
4613 (Profil gelöscht)
Gast
Klamottenläden haben Abteilungen für Frauen, Männer, Kinder.
Kinser unter 12 brauchen keinen geschlechtsspezifischen Schnitt.
Woran erkennt man, ob das T-Shirt für Jungen oder Mädchen ist?
Ich glaube, garnicht!
Es sind die Kunden, die die Shirts den Klisches entsprechend auswählen und ihren Kindern kaufen.
Meine Mama hat das nicht gemacht. Ich durfte als Junge mit ner taillierten Jacke mit Blumenmuster in die Schule.
Was denkt ihr, wie ich mich gefühlt hab.
Es ist die Gesellschaft, die diese Klischees den Kindern zuordnet. Nicht die Modelabel - die machen eh immer nur das selbe: was öfter gekauft wird, nachproduzieren, in Massen.
Demokrat
Wie kommt frau lucht auf die idee, dass das familienbild nicht in die gesellschaftliche realitaet passt. Dues ist eine meinung, aber eben in keinster weise belegbar.
Serioese studien beduerfen auch einer serioesen statistischen annahme, wekche in die See m fall wohl komplett auf spekulation beruht.
Demokrat
Die studie konnte zu keinem anderen ergebnis kommen. Das ergebnis stand schon vorher fest. Es ging nicht darum etwas zu untersuchen, sondern etwas zu beweisen. Wissentschaftlich einfach nicht haltbar.
Es waere durchaus sinnvoll, sich auch ueber den namen des Instituts( Am Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG)., zu forschen. Aben frauen kein geschlecht?
Christian
"Gibt‘s auch himmelblaue Shirts mit der Aufschrift „Mini-Diktator“?"
Well, in fact ... http://www.shop-pardon.net/fr/baby-grow-bio/869-babygrow-bio-petit-dictateur.html
Normalo
Was Frau Lucht nicht - oder zumindest nicht aus dem Artikel erkennbar - wahrnimmt, sind Produkte, die weniger eindeutig geschlechtsnormierend sind, zum Beispiel weil sie auf identitätserläuternde Sprüche und auf geschlechtsspezifische Signalfarben verzichten. Die gibt es auch überall zu kaufen, also stimmt das nicht so ganz mit der eingeschränkten Wahlfreiheit.
Nur setzen sich solche Artikel eben offenbar nicht so gut auf dem Markt durch, dass sie das stereotype Mädchen- und Jungs-Zeug verdrängen könnten. Dass Discounter und große Ketten darüber hinaus ihre Kollektionen straff am Mainstream entlang modellieren und vergleichsweise wenig Sinn für die Vorstellungen abseits davon aufbringen, dürfte mit ihrem Geschäftsmodell zusammenhängen. Sie haben weder die Ambition noch den Anlass, avantgarde zu sein und Trends zu setzen. Am besten verkaufen sie, wenn sie anbieten, was ein möglichst großer Teil der Kundschaft vorher schon schick fand.
Ich wäre also dankbar, wenn solche "Experten" wie Frau Lucht die Mehrpoligkeit des Marktes etwas stärker berücksichtigen würden, den sie untersuchen. Es ist nicht nur "Der Handel macht dies, die Hersteller bieten Jenes..." Zu einem ganz erklecklichen Teil ist es auch: "Die KUNDEN wollen...".
ps: Wenn ich Klamotten für Männer, Frauen, Jungs und Mädchen zu Schau stellen will, dann ist die "klassische Familie" einfach die effizienteste Gruppierung, mehr nicht.
Alfred Sauer
Also ich werd da nicht ganz schlau draus. Heisst im Umkehrschluss was? Außer das Steuergelder verschwendet werden. Steht doch dennoch jedem frei zu kaufen was er will. Aber eine geschlechtliche Einteilung macht nunmal rein praktisch sinn. Wenn ich einen Anzug kaufen möchte, will ich mich nicht vorher durch Röcke wühlen müssen und umgekehrt. Zudem gibt es zahlose Anbieter online wie offline in denen man T-Shirts, Hosen, Pullis, etc selbt gestalten und drucken kann. Die "Gesellschaft" bietet für jeden genug Möglichkeiten zur freien Entfaltung. Da brauche ich keine Professoren welche durch Kaufhäuser tigern und vermeidliche ungleichgewichte suchen. Zumindest sollte mal ein gegenvorschlag erbracht werden. Dann kann man sich wenigstens entscheiden. Gehe ich in den Einheitsklamottenladen oder in einen pluralistischen wo ich mich individuell ankleiden kann, was Gott sei Dank die Regel ist :-) .
Kapiert
Es ist mir auch schon aufgefallen, dass immer mehr Produkte Mädchen-/Jungenklischees aufnehmen.
Allerdings mag ich Sätze nicht so, die mit "die Gesellschaft" anfangen:
"Die Gesellschaft gewährt Männern die Freiheit, etwas zu entdecken, sich mit anderen zu messen, sich selbst zu verwirklichen."
Wer ist denn "die Gesellschaft"? Irgendein Unternehmen, eine Behörde, eine Organisation? Die etwas per Beschluss gewähren oder verbieten kann?
Nein, die Gesellschaft, das sind Menschen, die Kunden, die Mütter und Väter, die ihre eigenen Vorstellungen und Erfahrungen gemacht haben, was Mädchen und Jungen toll finden.
Vor 20-30 Jahren gab es nämlich viel weniger solche Klischeeklamotten, dennoch wollten die meisten Jungs lieber Astronauten oder Informatiker etc. werden, viele Mädchen lieber soziale Berufe usw. ergreifen.
Diese Jungen und Mädchen sind heute selbst Eltern und haben neben Erfahrungen natürlich auch ihre Träume und Projektionen, die sie auf ihre Kinder beziehen.
Das heißt nicht, dass alles so bleiben muss und soll, wie es ist. Aber Zufall ist das alles nicht und eine ominöse "Gesellschaft", die etwas vorschreibt, gibt es nicht.