Kinderbuchautorin über glückliche Enden: „Ich hatte unglaubliches Glück“
In einer Welt ohne Ritter Trenk wäre es abends beim Vorlesen sehr still. Ein Gespräch mit Kirsten Boie über Schwerter und Älterwerden.
taz: Haben Sie heute andere Kinder vor Augen, wenn Sie schreiben als vor 35 Jahren, Frau Boie?
Kirsten Boie: Generell gehe ich davon aus, dass sich Kinder heute gar nicht so wahnsinnig unterscheiden von den Kindern früher. Ich glaube, das Kinderleben unterscheidet sich massiv, aber die Entwicklungsphasen, die Kinder durchlaufen, was sie als belastend empfinden, da ist vieles noch genau gleich.
Wie wichtig ist es dann, dass die gegenwärtigen Lebensumstände mit Patchworkfamilie und Co in den Kinderbüchern auftauchen? Viele Ihrer Bücher sind ja im besten Sinn zeitenthoben.
Die neueren sind das, beginnend mit den 2000er-Jahren. Früher waren sie sehr viel aktueller, realitätsorientierter und gesellschaftskritischer. Ich denke, man braucht beides. Die Klassiker sind ja eigentlich ein Beweis für das, was ich eben gesagt habe: Wenn Kinderbücher wirklich gut sind – wobei ich jetzt nicht definieren müssen möchte, was ein gutes Kinderbuch ist –
... ach doch, bitte. Das gute Kinderbuch...
Ich denke immer, ich muss mir da etwas zurechtlegen. Es ist die Standardfrage, und ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ob ein Kinderbuch tatsächlich gut ist, kann man daran merken, dass es auch nach 70 Jahren Kinder noch erreicht und begeistert oder tröstet. Gleichzeitig glaube ich auch, dass Kinder ihre Welt in ihren Büchern finden können sollen.
Wie kam es zu Ihrer Hinwendung zum Zeitloseren?
Ich habe das nicht angesteuert. Die frühen und historisch und gesellschaftlich sehr konkret angesiedelten Bücher habe ich geschrieben, weil es da meine Themen waren, über die ich schreiben wollte und von denen ich viele nach wie vor für relevant halte. Bei denen, die Sie zeitlos nennen, gab es immer einen konkreten Anlass. Bei Ritter Trenk war es so, dass ich im Gespräch mit der Mutter eines ungefähr fünfjährigen Sohnes war, die beklagt hat, dass sie einfach nicht genügend Vorlesebücher für ihren Sohn findet. Sie sagte, für so kleine Jungs, sie war da sehr geschlechtsspezifisch...
69, ist eine der bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Bis zur Adoption ihres ersten Kindes arbeitete sie als Lehrerin in Hamburg. 1985 erschien ihr erstes Buch „Paule ist ein Glücksgriff“. Sie schrieb unter anderem die Reihen „Geschichten aus dem Möwenweg“, „Ritter Trenk“, „Seeräuber Moses“, „Juli“ und „King Kong“. 2015 gründete sie die Möwenweg-Stiftung, die unter anderem Waisenkinder in Swasiland, Leseförderung und Flüchtlingsprojekte unterstützt. Im vergangenen Jahr wurde Boie die Ehrenbürgerschaft der Stadt Hamburg verliehen. Am 19. März wird sie 70 Jahre alt.
... was Ihnen eigentlich fremd ist, oder?
Ich bin Mutter eines Sohnes und einer Tochter und würde schon sagen, dass es da unterschiedliche Interessensschwerpunkte gibt. Gerade in dem Alter, in dem sich die Kinder orientieren und sie gucken: Was macht der, wie ich mal einer werden soll und was macht die, wie ich mal eine werden soll. Deshalb ist die Gesellschaft ja auch so unheimlich wichtig und nicht nur das Elternhaus.
Wie haben Sie es selbst als Mutter mit den Geschlechterrollen gehalten?
Mein Sohn fand Ritter unheimlich toll und wir waren sehr streng. Er durfte keine Schwerter haben. Wir waren in den 70er-Jahren der felsenfesten Überzeugung, dass Jungs und Mädchen 100 prozentig gleich sind und die Unterschiede nur durch Erziehung entstehen. Diese Überzeugung wurde uns dann ein Stück weit genommen.
Wie früh war für Sie klar, dass Sie Texte für Kinder schreiben wollen?
Ich habe als Kind und bis ich 15 Jahre alt war, die Absicht gehabt, Bücher zu schreiben – also Erwachsenenbücher, klar. Und habe dann aufgrund der Information, dass man in der Regel davon nicht leben kann, den Wunsch aufgegeben. Das Studium hat auch dazu beigetragen, dass ich dachte: Jetzt weiß ich, was einen guten Text ausmacht, das krieg' ich doch nie hin.
Ich würde denken, dass Ihnen ohnehin der unprätentiöse Gestus des Kinderbuchs besser gefällt, diese Nicht-GroßschriftstellerInnen-Haltung.
„Ich bin Peter Handke, ich komme von Tolstoi, ich komme von Shakespeare“... Vielleicht ist das inzwischen vorbei – das wäre doch schön. Ich schreibe einfach Kinder- und Jugendbücher, weil es das ist, was mir unheimlich viel Spaß macht. Und ich habe das ganze Spektrum der Welt, ich kann für ganz unterschiedliche Altersgruppen erzählen, tragisch, pathetisch, lustig, spannend, ich könnte da auch Krimis und Science Fiction schreiben.
Sie haben vermutlich das Glück, dass der Oetinger Verlag ohnehin sehr offen ist für alles, was den Namen „Boie“ trägt.
Na ja, vielleicht nicht 100-prozentig. Mir geht es inzwischen, nach 35 Jahren, natürlich unglaublich gut im Vergleich zu Kollegen, die nicht so eine lange Backlist und nicht solch einen Bekanntheitsgrad, das sage ich jetzt einfach mal, haben. Es ist vorstellbar, dass ein Manuskript, das ich schreibe, angenommen wird, aber nicht angenommen würde, wenn es ein Newcomer geschrieben hätte. Und ich war von Anfang an in einer privilegierten Situation: Ich musste nie eine Familie vom Schreiben ernähren. Ich glaube, dass Sie an das Schreiben ganz anders herangehen, wenn Sie das müssen.
Ihr Schreiben war als Zubrot gedacht?
Genau. Das Jugendamt hatte mir ja nach der Adoption unseres Sohnes untersagt, weiter als Lehrerin zu arbeiten. Es war schon klamm, ich habe meine Lebensversicherung gekündigt, sonst wären wir nicht über die Runden gekommen und ich sollte hinter dem Rücken des Jugendamtes etwas beisteuern. Ich dachte, ich schreibe Heftromane. Ich denke, dass dadurch in meinen Kopf eine Tür geöffnet wurde in Richtung: Du darfst schreiben.
Aber den Groschenroman haben Sie gar nicht angefangen.
Und ich weiß heute, dass ich es auch gar nicht gekonnt hätte, es wäre immer ironisch geworden. Insofern war es ein toller Ausweg, dass mir, noch bevor ich mich an die Arbeit gemacht habe, ein Kindertext in den Weg gekommen ist.
Wie viel Disziplin braucht es, nahezu jedes Jahr ein Buch zu veröffentlichen?
Ich glaube, ich habe das in der Anfangsphase gelernt. Da hatte ich ein zweijähriges Kind und ein Neugeborenes, mein Mann war berufstätig, es gab keine Kinderbetreuung. Das heißt, wenn ich schreiben wollte, dann musste ich dann schreiben, wenn es die Möglichkeit gab.
Der Klassiker bei Autorinnen.
Natürlich. Dann können Sie nicht warten, bis eine Muse kommt und sie küsst. Und ich war damals sicher auch noch naiver, als ich es heute bin. Ein gewisser Größenwahn liegt ja auch darin. Aber ich glaube, den brauchen Sie.
Warum?
Wenn Sie schreiben, müssen Sie glauben können, es ist gut.
Sie haben Ihr Manuskript ja direkt an einen der besten Kinderbuch-Verlage überhaupt geschickt...
Das wird Oetinger freuen. Aber das war ja nicht meine Absicht. Ich habe drei Kapitel geschrieben und dachte: Wenn jemand das will, kann ich weiterschreiben. Ich habe es an fünf Verlage geschickt und Oetinger hat sich gleich am nächsten Morgen gemeldet. Was ich nicht wusste: das Thema des Buches, Adoption, war eigentlich eine Nische. Und es war ein Doppelthema: Adoption und dunkelhäutiges Kind. Ich habe ja nur darüber geschrieben, weil es mein eigenes Leben war. Ich hatte ein unglaubliches Glück. Wobei ich glaube, dass Verlage immer noch zugreifen, wenn sie glauben, Potenzial zu sehen.
Sie sehen es nicht immer oder nicht sofort.
Michael Ende soll das Manuskript von Jim Knopf an 21 Verlage geschickt haben. Hätte ich fünf Absagen bekommen, hätte ich gedacht, dass der Text schlecht sein muss und dann hätte ich es gelassen. Männer – Frauen
Sie schreiben auch über traurig aktuelle Themen – etwa mit „Bestimmt wird alles gut“ über das Leben von geflüchteten Kindern. Wie kam es dazu?
Da hat mich jemand von Onilo, einer Plattform für Schulen zum Lesenlernen, gefragt, ob ich Lust hätte, etwas zu dem Thema zu machen. Da habe ich gesagt: Wenn ich weiß, dass das über Euch wirklich Kinder erreicht, dann mache ich das sofort. Und ich hatte ja in der Nachbarschaft Kinder aus geflüchteten Familien, die schon Deutsch konnten, das war ein großes Glück. Zwei Kinder haben mir erzählt, was für sie wichtig war, was für sie schrecklich war. Bei Lesungen habe ich gemerkt, dass es genau die Dinge waren, die die Kinder, die zuhörten, emotional erreicht haben.
Zum Beispiel?
Dass die Puppe des Mädchens verschwindet. Das ganze Gepäck wird ihnen gestohlen und damit auch die Puppe.
So ähnlich wie bei Judith Kerr, deren Familie fast 90 Jahre vorher vor den Nazis flieht und deren Hauptfigur ihr rosa Kaninchen verliert.
Es war ihre Erfahrung genau wie die des Mädchens, mit dem ich gesprochen habe. Aber da wäre ich ja nicht drauf gekommen. Auch so Geschichten wie die, dass sie Patronenhülsen gesammelt haben, das wäre mir geradezu pervers erschienen, das so zu beschreiben wie Kinder hier früher nach Silvester gesammelt haben. Das hätte ich als zynisch empfunden, aber genau das fanden sie cool – auch wenn sie die Angriffe furchtbar fanden.
Es gibt Geschichten, denen Sie kein, zumindest kein eindeutig glückliches Ende geben, etwa in der Mobbing-Geschichte „Nicht Chicago. Nicht hier“. Fällt Ihnen das schwer?
Das Thema hat mich so erschreckt, weil ich mir vorher nicht hätte vorstellen können, dass so etwas überhaupt möglich ist, dass da auch die Polizei an ihre Grenzen stößt. Da habe ich zum Teil sehr, sehr traurige Geschichten gehört, auch solche, die mich wirklich böse gemacht haben. Dass es kein gutes Ende gibt, ärgert die Leser ohne Ende – und das kann ich gut verstehen. Ich kriege sogar jetzt noch tolle Jugendlichenpost, die Lehrer sagen wahrscheinlich, seid höflich, sie schreiben: Könnte es vielleicht eine Fortsetzung geben, in der Niklas und Karl Freunde werden?
Was antworten Sie dann?
Dann erkläre ich Ihnen, warum ich es so geschrieben habe und dass ich nicht glaube, dass Niklas und Karl Freunde werden können. Ich schreibe aber auch – da bin ich immer noch Lehrerin – dass ich denke, dass die einzigen, die etwas hätten tun können, die Klassenkameraden sind. Die hätten Karl seine Grenzen aufzeigen können, Lehrer können das nicht.
Sie selbst sind als Lehrerin auf eigenen Wunsch vom Gymnasium zur Gesamtschule gewechselt. Wie kam das?
Ich war im Prinzip an diesem Gymnasium sehr glücklich mit den Schülern. Die waren nett, sensibel, klug, man konnte alles Mögliche mit ihnen besprechen. Ich entsinne mich im Englischunterricht in der fünften Klasse, als es darum ging, Begriffe für Räume zu lernen, sollten alle beschreiben, was es bei ihnen so gibt. Da kamen Fragen wie: Was heißt „Bibliothek“, was heißt „blauer Salon“? Ich hatte das Gefühl, es ist eine sehr heile Welt. Ich dachte, ich möchte auch den anderen Teil kennenlernen.
Aus welchem Teil der Welt kommen Sie selbst?
Ich bin in Hamburg-Billstedt aufgewachsen, bin aber drei Stadtteile weiter zum Gymnasium gegangen, in Billstedt gab es kein Gymnasium. Meine Eltern waren sehr bildungsorientiert, ich kannte nur solche Kinder, wie ich es war. Im Konfirmationsunterricht bin ich dann Kindern begegnet, die auf die Hauptschule gingen, ein Mädchen hat die Realschule besucht. Wir haben immer zusammen gesessen, wir haben uns dort auch fremd gefühlt. Das Konzept der Gesamtschule schien mir nicht nur zu versprechen, dass auch die Kinder aus schwierigeren Verhältnissen die Chance haben, zum Abitur zu kommen, sondern auch, dass alle zusammen lernen und niemand sich so fremd fühlt wie ich damals.
Mit welchen Gefühlen nähern Sie sich Ihrem Geburtstag?
Ich werde jetzt siebzig und ich habe es inzwischen so oft gesagt, dass ich es mir allmählich vorstellen kann. Aber eigentlich ist es für mich immer noch unvorstellbar, weil mein Bild von 70 ein vollkommen anderes ist als meine eigene Erfahrung mit mir. 70-Jährige in meiner Kindheit waren zum Gutteil tot und wenn sie noch lebten, dann saßen sie am Fenster und schauten heraus. Da hat sich ganz viel geändert und das ist einerseits toll, weil die Möglichkeiten so viel mehr geworden sind, zumindest für die Menschen, die das Geld dafür haben. Aber andererseits ist das auch ein Druck, mit dem man lernen muss, einigermaßen selbstbewusst umzugehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?