Kinder-Jugend-Theaterfestival in München: Die Kleinen groß denken

Kulturelle Bildung für Kinder und Jugendliche ist Mangelware. Das Münchner Festival Think Big! für Tanz-, Musiktheater und Performance setzt da an.

sechs Tänzer:Innen der Performancegruppe "Haptic Hide" laufen eine Treppe hinauf

„Beat by Bits“, ein Openair-Stück von Haptic Hide, zu sehen beim Festival Foto: Wolfgang Stahr

In Ceren Orans „Spiel im Spiel“ machen drei brillante Tän­ze­r*in­nen den herrlichsten Blödsinn und halten damit der Natur des kindlichen Spiels einen fein geschliffenen Spiegel vor. In Jasmine Morands „Mirkids“ hängt ein solcher riesengroß an der Decke. Und während die jungen Zu­schaue­r*in­nen in einem dichten Kreis am Boden liegen, ist im Spiegel ein Muster aus Körpern zu sehen – ein buntes, menschliches Mandala in Bewegung.

Es ist „Think Big!“-Time in München. Bereits zum zehnten Mal dokumentiert das internationale Tanz-, Musiktheater- und Performance-Festival für junges Publikum, wie sich diese hierzulande eher Nische zu nennende Sparte allmählich ausdifferenziert.

Lang hat’s gedauert, und ein Grund dafür ist, wie man in Deutschland noch immer auf Kinder schaut: Bildung ist en vogue, am besten schon im Mutterleib. Aber als Bildung gilt nur, was in der Zukunft zählbare Erträge zeitigt: gute Noten, beruflicher Erfolg. Wie aber sieht es mit kultureller Bildung aus?

Musik- und Kunstunterricht zurückgefahren

In den bayerischen Grundschulen wird gerade der Musik- und Kunstunterricht zurückgefahren, weil die Kinder so schlecht lesen und rechnen. Kann das der Weg sein? Den Jüngsten das wegzunehmen, worin sie sich, wenn es die Lehrperson erlaubt, zumindest noch ein bisschen selbst ausdrücken könnten? Gerade, wenn Deutsch nicht die Muttersprache ist. Oder die Eltern sich keine private Mal- oder Musikschule leisten können.

Think Big!, noch bis 13. Juli 2024 an verschiedenen Spielorten

in München, www.thinkbigfestival.de

Am Rande eines kulturpolitischen Panels bei Think Big! erzählt eine engagierte Lehrerin, dass viele ihrer Kol­le­g*in­nen keinen Begriff davon hätten, was kulturelle Bildung überhaupt sein soll: „Meint das, mit den Kindern mal ins Theater zu gehen?“ Nein, das meint weit mehr: Eine Schule der Wahrnehmung, ein Über-sich-hinaus-Blicken und zugleich die Erfahrung von Selbstwirksamkeit.

Nie werde ich meine erste Begegnung mit dem Projekt „Anna tanzt“ vergessen, in dem Tän­ze­r*in­nen des Bayerischen Staatsballetts für mehrere Wochen alle Achtklässler eines Münchner Gymnasiums unter ihre Fittiche nahmen: Ein hektisches Gewimmel von pubertären Gockeleien und Fluchtversuchen im Ballettsaal.

Maximal rührender Ernst

Und dann die Aufführung, in der alle ihren Platz gefunden hatten: Ganz schöner, konzentrierter und maximal rührender Ernst! Das kann passieren, wenn der Fokus des „Unterrichtens“ von Defizitorientierung auf Wertschätzung umgelegt wird.

Inzwischen belegen Evaluationen dieser und ähnlicher Projekte, dass vor allem der zeitgenössische, wenig formalisierte Tanz – verkürzt formuliert – kreativer, offener, fokussierter und empathischer macht. Maike Gunsilius, Professorin für Medien, Theater und populäre Kultur in Hildesheim, schreibt:

„Damit kann die körperzentrierteste aller Kunstformen Kindern und Jugendlichen sowohl als Zu­schaue­r*in­nen als auch als Beteiligten ganzheitliche Erfahrungen und andere Zugänge zu einer komplexen, nicht immer fassbaren Welt eröffnen.“ Schwer vorstellbar, dass eine so gebildete Jugend rechte, undemokratische Parteien bevorzugt wie jüngst bei der Europawahl.

Perspektivwechsel durch Kunst

Auch wenn Kunst kein Zaubermittel ist und schon gar kein Umerziehungsprogramm: sie zielt, wenn sie diesen Namen verdient, nicht auf Verkehrskasperlbotschaften wie „Nicht bei Rot über die Ampel!“, sondern ermöglicht Perspektivwechsel wie die eingangs genannten Stücke oder fördert aktives Mittun, und sei es nur in Sachen Entschlüsselung von vieldeutigen Bildern und Figuren.

Rotem Weissmans „Prisma“ hat einige davon zu bieten. Die ebenfalls bei Think Big! zu sehende Performance der israelischen Choreografin gehört zu den kleinen, mobilen Pop-up-Formaten, die das Netzwerk explore dance seit 2018 produziert.

Der Zusammenschluss aus fabrik moves Potsdam, Fokus Tanz | Tanz und Schule e. V. München, K3 | Tanzplan Hamburg und HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste Dresden wird im Oktober mit dem Deutschen Tanzpreis für herausragende Entwicklung ausgezeichnet. Und der neueste Unesco-Staatenbericht nennt explore dance sogar als innovatives Beispiel dafür, wie Deutschland Vielfalt fördert.

Denn das bundesübergreifende Netzwerk verführt nicht nur international renommierte Cho­reo­gra­f*in­nen teils erstmals zur Arbeit für junges Publikum, sondern bringt die künstlerisch hochwertigen und oft divers besetzten Stücke auch dahin, wo man die größte Vielfalt an jungen Menschen antrifft: in die Grundschulen, an die städtische Peripherie oder aufs Land.

Dabei können die Kids auch Künst­le­r*in­nen treffen, Workshops belegen und bereits im Vorfeld ihre Meinung sagen. Wenn sie sehen, dass einer ihrer Tipps umgesetzt wurde, sind sie nicht nur stolz, sondern auch ein Teil des Ganzen.

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