Kinder- und Jugendbuch im Frühjahr: Rebellion aus dem Abseits
Neuerscheinungen von Lika Nüssli, Cornelia Franz und Xavier-Laurent Petit erzählen von glücklichen Momenten in schwierigen Zeiten.
Noch bis in die 1970er Jahre wurden in der Schweiz sogenannte Verdingkinder als günstige Arbeitskräfte auf Bauernhöfen untergebracht. Auch Lika Nüsslis Vater Ernst ereilte dieses Schicksal im ländlichen Toggenburg 1949. Gegen Zahlung von 50 Rappen pro Tag überließen die Eltern ihren zwölfjährigen Sohn einem fremden Bauern.
In ihrer Graphic Novel „Starkes Ding“ hat die Schweizer Künstlerin und Illustratorin diese Kindheit in Bildern und Texten festgehalten. Aus der Perspektive des Jungen erzählt Nüssli vom arbeitsreichen Alltag auf dem kleinen Hof der Familie in den Bergen. Während des Zweiten Weltkriegs wird sein Vater an die Grenze zum Militärdienst eingezogen.
In seiner Abwesenheit übernehmen Ernst und seine sechs Geschwister mit der Mutter das Melken und Heuen. Sie versorgen die Schweine und Hühner. Ein ganzes Spiegelei gibt es für die Kinder allein am Geburtstag. Nur die Stube wird im Winter warm und der hohe Schnee schneidet den Weg ab hinunter ins Dorf.
Lika Nüssli: „Starkes Ding“. Graphic Novel, Edition Moderne, Zürich 2022, 232 Seiten, 29 Euro
Cornelia Franz: „Swing High. Tanzen gegen den Sturm“. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2022, 224 Seiten, 16 Euro. Ab 14 Jahre
In frechen Schwarzweißzeichnungen mit grobem Strich und kontrastiert durch präzise Skizzen von Tieren und Pflanzen fängt die Illustratorin die bescheidene, naturverbundene Jugend ihres Vaters ein. Besonders die enge Beziehung zu den ihm anvertrauten Tieren scheint den fröhlichen Jungen oftmals über Armut und Strafen hinwegzutrösten.
Einsamkeit und Herzlosigkeit
Doch die folgenden Jahre im Haus des älteren Bauernehepaars werden für den robusten Verdingburschen zur reinsten Qual. Endlose Arbeitstage, Einsamkeit und die Herzlosigkeit seiner Arbeitgeber machen ihm das Leben unerträglich schwer. Mit fratzenhaft verzerrten Gesichtern kommandieren sie ihn herum.
Doch die kostbaren Vormittagsstunden in der Schule und das ausgelassene Spiel mit den Mitschülern, von denen einige ein ähnliches Los teilen, kann Ernst immer wieder unbeschwert genießen. In einfühlsam und gleichzeitig humorvoll komponierten Szenen nähert sich Lika Nüssli der Vergangenheit ihres Vaters und lenkt dabei den Blick auf eine bemerkenswerte Fähigkeit – durch Momente des Miteinanders und im Kontakt mit der Natur schwierige Lebenssituationen zu überstehen.
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Auch Henri, der sechzehnjährige Erzähler in dem Roman „Swing High“ sucht mit seinen unangepassten Freunden nach Nischen im repressiven nationalsozialistischen Alltag. Mit einem tragbaren Koffergrammofon ausgerüstet, treffen sich die Hamburger „Swing-Heinis“ nach der Schule im Eppendorfer Park, am Elbstrand oder im Freibad.
Begeistert hört die Clique die Musik von Louis Armstrong, Artie Shaw oder Benny Goodman. Zu Songs wie „The Flat Foot Floogie with a Floy, Floy“ hotten Henri, Fritz, Konrad, Hanna und die anderen Swing-Kids auf privaten Partys ab. Doch mit Kriegsbeginn 1939 geraten die britisch gestylten, individualistischen Jugendlichen zusehend ins Visier von Polizei und Gestapo.
Liebe im Faschismus
Für ihre Erzählung hat die Hamburger Schriftstellerin Cornelia Franz die Geschichte dieser frühen Subkulturszene in ihrer Heimatstadt detailreich und lebendig recherchiert. Ganz gegenwärtig erzählt Cornelia Franz in „Swing High. Tanzen gegen den Sturm“ von Identitätssuche, jugendlichem Überschwang und erster Liebe im faschistischen Deutschland.
1939 hatte Henri die Sommerferien noch bei Jonny und seiner Familie in Winchester verbracht. Doch als im August 1939 ein Kriegsausbruch immer wahrscheinlicher wird, muss er England Hals über Kopf verlassen. Mit dem neuen britischen Jacket und der Louis-Armstrong-Schallplatte im Koffer kehrt er vorzeitig zu seinen Eltern zurück nach Hamburg.
Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen am 1. September wird die Stimmung auch an der Schule für Henri und seine Swing-Freunde immer unerträglicher. Die Ober-Nazi-Lehrer haben dort das Heft übernommen. Rassenlehre und Wehrertüchtigung stehen auf dem Lehrplan, während das jüdische Gymnasium von Hanna und ihrem Bruder Edu mit dem Krieg geschlossen wurde.
Für Juden gelten strenge Ausgangsbeschränkungen. Trotzdem riskiert Hanna noch ein heimliches Treffen mit den Freunden. Doch ein paar Typen von der Hitlerjugend lauern wieder einmal der Gruppe auf. Nur knapp kann das Mädchen unerkannt entkommen. Im Dezember sieht Henri die jüdische Freundin ein letztes Mal.
Kommunist und Swing-Heini
Wann immer es geht, versucht der Sechzehnjährige sich vor dem obligatorischen HJ-Dienst zu drücken. Lieber trifft sich Henri mit Gleichgesinnten auf der Eisbahn im Planten un Blomen. Dort lernt er eines Nachmittags Inge kennen und verliebt sich unsterblich in sie.
Doch diese Geschichte kann nicht gut ausgehen. Schon auf den ersten Buchseiten greift die Autorin mit einem parallelen Erzählstrang, schwarz abgesetzt, den Ereignissen voraus: 1941 begegnen sich Robert, der Kommunist, und Henri, der Swing-Heini, nach Folter und Verhören in einer stinkenden, dunklen Zelle im Stadthaus, dem Hauptquartier der Gestapo Hamburg.
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Der fesselnde Roman „Der Sohn des Ursars“ erzählt von den Abenteuern eines hochbegabten Roma-Jungen und seiner Familie. Im Wohnwagen ziehen sie, einen Bären mit dabei, durchs Land. Denn Ciprians Vater Daddu ist ein Ursari, ein Bärenführer, der seine Kunst auf den Märktplätzen der Provinz zur Schau stellt. Niemand von ihnen hat jemals eine Schule besucht.
In Tãmãsciu wird die Familie von der Polizei bedroht. So geraten sie Zslot und Lazlo in die Hände. Die zwielichtigen Schlepper organisieren ihre Flucht nach Paris. Doch für die Reise und auch für den windigen Verschlag neben den Bahngleisen in der Banlieue müssen die Ursaris nun teuer bezahlen.
Klauen in der Pariser Metro
Ciprian und sein großer Bruder Dimetriu werden von dem fiesen Karoly gezwungen, in der Pariser Metro mit Taschendiebstählen die Schulden der Familie zu begleichen, während ihre Schwester Vera zum Betteln geschickt wird. Niemals war es irgendwo leicht für sie.
Mit Ciprians Augen, ohne Sentimentalität, aber mit verschmitztem Humor schildert der französische Kinderbuchautor Xavier-Laurent Petit die hoffnungslose Situation der Familie. Aufmerksam versucht der Ich-Erzähler bald die fremde Stadt, die Bewohner und ihre Sprache mit seinem eigenen System abzugleichen und zu entschlüsseln. Seine eigenwilligen Schlüsse und Interpretationen dieser fremden Lebenswelt verleihen der Erzählung eine überraschende Perspektive.
Als die sympathische ältere Dame „Madame Walfisch“ im Jardin du Luxembourg seine außerordentliche Begabung für das Schachspiel entdeckt, wendet sich für Ciprian plötzlich das Blatt und ihm eröffnet sich eine neue Welt, in der er gewinnen kann.
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