: „Keine falsche Nachsicht“
Zev Sternhell, Historiker an der Hebräischen Universität Jerusalem und Autor eines neuen Buches über das Europa des Faschismus, zur aktuellen Gefahr des Neonazismus und zur Politik der FPÖ Jörg Haiders. Ein Gespräch
von SUSANNE KNAUL
taz: Herr Sternhell, Sie schreiben von Juden, die begeisterte Faschisten waren. Wie konnten Juden Faschisten sein?
Zev Sternhell: Es gab kein Hindernis für Juden, Faschisten zu sein. Die Juden haben kein Gen, das sie davor schützt. In Italien gab es, relativ gesehen, sogar noch mehr jüdische Faschisten als nichtjüdische.
Wie lässt sich das erklären?
Der Faschismus ist eine Art Nationalismus. Autoritär, brutal, aber vor allem national. Die Juden in Europa waren Nationalisten der ersten Reihe. Es gab keine größeren Patrioten.
Das änderte sich aber 1935 mit der Rassenlehre der Nazis.
Eine Rassenlehre ist für den Faschismus an sich nicht notwendig. Er ist totalitär, aber vom Nationalsozialismus unterschiedlich: Es gab im italienischen Faschismus nicht die gleiche Brutalität, die es bei den Nazis gab. Aber der entscheidende Unterschied ist der biologische Determinismus, der wiederum unmittelbar mit dem unterschiedlichen Ausmaß des Schreckens der beiden Regime einhergeht.
Ist die Gestapo nicht mit der italienischen Geheimpolizei vergleichbar?
Nein, denn in Italien gab es vielleicht einige hundert politische Gefangene. Es gab weder Dachau noch Mauthausen – von Auschwitz ganz zu schweigen.
Aus Ihrem Buch lässt sich Verständnis für die Anziehungskraft des Faschismus lesen. Worin liegt der Zauber?
Der Faschismus übte eine starke Faszination aus, weil er eine Alternative zur liberalen Demokratie bot, die in den Augen vieler als Regime betrachtet wurde, das sein Existenzrecht verloren hatte. Es gab keine Ordnung, keine Autorität und keine Aufrichtigkeit mehr. Das Volk, das so viele als vereinigten Körper, als große Familie sehen wollten, wurde von der liberalen Demokratie scheinbar in Sektoren aufgeteilt. Die Demokratie ist ein Krieg um Meinungen, Standpunkte und Auffassungen. Die liberale Demokratie wird gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Symbol von Schwäche, Egoismus und Materialismus. Wenn jeder nur um sich selbst besorgt ist, wer sorgt sich dann um die Nation, um das Volk?
Hier kommt der Faschismus und sagt: Wir tun es.
Richtig. Sie sagen, wir annullieren die Demokratie, um das Volk zu retten. In dieser Hinsicht hatte der Faschismus eine enorme Anziehungskraft. Unter den Intellektuellen, die die Aufklärung ablehnten, ebenso wie unter den Volksmassen, die die Demokratie als ausbeuterisches System betrachteten.
Die damalige faschistische Propaganda stützte sich auf Begriffe wie reinigender Krieg, Heldenmythos, Opfermut. Damit kann man heute niemanden mehr begeistern.
Der Unterschied zu damals ist, dass die Europäer tatsächlich von Heldenmythos und Krieg geheilt sind. Jeder weiß, was Krieg den Menschen antut. Auch der Holocaust muss in diesem Zusammenhang gesehen werden, mit seiner Brutalisierung und Dämonisierung, die eine Folge des Heldenmythos ist.
Viele Analysen des FPÖ-Erfolgs in Österreichs meinen, Haider gewinne deshalb, weil er die Angst vor dem Verlust der nationalen Identität schürt.
Das Volk hat einen Volksgeist und ein Wesen. Deshalb ist es für Zuwanderer unmöglich, aufgenommen zu werden. Anders ist es bei einer Nation von Staatsbürgern. Prinzipiell müssen wir uns heute fragen, welche Auffassung wir wollen. Wollen wir ein Volk, das die Gesamtheit von freien Menschen ist, die selbst entscheiden, dass sie diesem Volk angehören, oder ist das Volk definiert von historischen, kulturellen und ethnischen Termini?
Ist der Begriff vom reinigenden Krieg durch den Begriff des reinen Volks ersetzt worden?
Die Angst, dass Fremde ins Haus eindringen, also Leute, die keinen Anteil am kulturellen Erbe haben, ist der Schlüssel zum Erfolg von Leuten wie Haider. Gleichzeitig bestehen gewisse Elemente des damaligen Hasses gegen die Händler und die Demokratie bis heute. Ich glaube, dass die gleichen Elemente, die den Nationalsozialismus ermöglichten, ein untrennbarer Teil der europäischen Kultur sind. Das Potenzial jedenfalls existiert.
Um Faschismus zu verhindern, muss man also Krisen vermeiden?
Um Faschismus nicht keimen zu lassen, muss man die Stabilität, die Sicherheit und das Gefühl der Sicherheit aufrechterhalten.
Was ist so unsicher in Österreich?
Das Problem ist kein konjunkturelles, sondern ein grundsätzliches Problem der europäischen Kultur. Der Krieg gegen die Aufklärung, gegen den Rationalismus, gegen Universalität und gegen die Prinzipien einer offenen Gesellschaft ist ein kulturelles Problem. Es existierte in Europa vor dem Ersten Weltkrieg, und es entwickelte sich in monströse Größen danach. Dass es noch existiert, dafür ist Österreich das beste Beispiel. Wir dürfen Phänomenen wie Haider oder wie der Inbrandsteckung der Asylantenwohnheime nicht mit einem Lächeln begegnen.
Manche Liberale und Konservative sagen, man dürfe Haider nicht dämonisieren.
Es waren die Konservativen und die Liberalen, die dachten, dass die Nazis nicht so schlimm sind. Wenn es etwas gibt, das wir aus dieser Zeit lernen können, dann, dass man jeglichem Aufkommen von antihumanistischen Auffassungen nicht mit Nachsicht begegnen darf, auch wenn die Regeln der Demokratie eingehalten werden.
Es gibt Menschen, die sagen, dass Haider kein Faschist sei, weil er die freie Marktwirtschaft unterstützt.
Unsinn. Die Unterstützung einer liberalen Wirtschaft ist kein Faustpfand für die Demokratie. Das Gegenteil ist richtig. Das Aufblühen des Faschismus war auch deshalb möglich, weil den Faschisten klar war, dass es keine Alternative zur liberalen Wirtschaft gibt. Es gab keine Verstaatlichung, das Eigentum blieb unangetastet.
Aber war nicht der Hass gegen das Kapital Teil der Nazipropaganda?
Dabei ging es um den Wohlfahrtsstaat und die Sorge um den Arbeiter, der Teil des Volkes war. Die Solidarität ist Teil der faschistischen Idee.
Andererseits schafften die Nationalsozialisten neue Arbeitsplätze.
Die Arbeitsplätze wurden nicht für den Einzelnen, sondern für die ganze Nation geschaffen. Die Nation braucht Soldaten, Arbeiter, Ingenieure und Industrielle. Das Volk braucht alle – und alle arbeiten für das Volk. So ließen Faschismus und Nationalsozialismus die Illusion der Gleichberechtigung aufkommen.
Könnte diese Methode denn heute wieder funktionieren?
Heutzutage vertiefen sich die Kluften. Reiche werden immer reicher, Arme immer ärmer. Die Frage ist, wie lange das so weitergehen kann, ohne dass erneut die gleiche Bitterkeit, die gleiche Frustration, der Hass, der so stark in den Zwanziger- und Dreißigerjahren hervortrat, wiederkommt. Gleichzeitig ist die Jugend heute viel kosmopolitischer als früher. Das ist eine der wichtigsten Bürgschaften für die europäische Zukunft.
Internet, Jeans und Coca-Cola als Mittel gegen den Faschismus?
Als eines der Mittel. Die Vermischung von Völkern und Sprachen ist sinnvoll. Ich würde gern die Nationalität verschwinden sehen, wenn das möglich wäre. Eines Tages wird es so sein. Bis dahin wird es noch viele Rückschläge geben. Haider ist eine Antwort auf die europäische Einheit.
Hätte man die europäische Einheit verlangsamen sollen, um Haider zu verhindern?
Nein, die Einheit ist lebenswichtig für Europa, aber es gibt dialektische Phänomene. Die EU ist einerseits eine Vereinigung, andererseits motiviert sie diffuse Kräfte. Da sind neue Tendenzen hin zur Regionalisierung. Dadurch wird kulturelle Engstirnigkeit gefördert.
Sie sagen, dass Nachsicht für Haider nicht angebracht sei. Dann unterstützen Sie die von Israel und der EU gegen Österreich verhängten Sanktionen?
Man hätte noch schärfer reagieren müssen – vor allem früher. Auf Italien zum Beispiel, wo vier neofaschistische Minister im Kabinett saßen. Die internationalen Reaktionen müssen klarstellen, dass die derzeitige österreichische Regierung keine legitime Regierung ist. In den Bereichen, wo es möglich ist, sollten deshalb die Beziehungen mit Österreich eingefroren werden.
Dann solidarisiert sich Österreich, weil es sich kollektiv bestraft fühlt, erst recht mit Jörg Haider.
Was soll das heißen: kollektive Bestrafung? Das Gleiche hätte man gesagt, wenn man einen Boykott über Nazideutschland verhängt hätte. Wenn ein Volk sich selbst eine solche Regierung wählt, dann muss es auch die Konsequenzen dafür tragen.
Zwei Drittel der Österreicher haben nicht für Haider gestimmt.
Das stimmt, auch die Italiener waren nicht mehrheitlich für Mussolini, noch nicht einmal Hitler hatte eine absolute Mehrheit. Trotzdem haben wir hier eine Situation, der wir keine Legitimation erteilen können. Ich glaube an einen sehr wichtigen erzieherischen Effekt.
SUSANNE KNAUL, 38, ist Israelkorrespondentin der taz seit Mai 1999. Sie lebt im Kibbuz Harel zwischen Tel Aviv und Jerusalem
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