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Keine Narrenfreiheit in der Fastenzeit

Landesarbeitsgericht setzt EU-Rechtsprechung bei Bereitschaftsdiensten um und erklärt sie zu Arbeitszeiten. Damit sollen Einzelverfahren verhindert werden  ■ Von Magda Schneider

Landesarbeitsrichter Dirk Nordmann schreibt zwei Wochen vor seinem Ruhestand nochmals Rechtsgeschichte. Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit, entschied gestern seine Kammer 8 des Landesarbeitsgerichts (LAG) und setzt somit als erstes zweitinstanzliches Gericht in Deutschland die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) um. „Wir kommen nicht aus der Bindung heraus“, macht Nordmann deutlich und setzt damit – in Widerspruch zur bisherigen Auffassung des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) – in der Arbeitsrechtssprechung einen Meilenstein. Sichtlich mit Genuss: „Es macht schon psychologisch Spaß, EU-Rechtssprechung auszulegen und das BAG in Frage zu stellen.“

Gegenstand des Verfahrens war eine Betriebsvereinbarung für das Krankenhaus Rissen, durch die die 28 ÄrztInnen der Inneren Abteilung zu acht Bereitschaftsdiensten (B-Dienste) pro Monat herangezogen werden können. Eine radikale Neuregelung wäre eigentlich nach dem EuGH-Urteil vom 3. Oktober 2000 notwendig gewesen, das die B-Dienste neu definiert hatte. Bislang galt die Interpretation des Arbeitszeitgesetzes durch das BAG, das B-Dienste wegen Ruhephasen nicht als vollwertige Arbeitszeit wertete.

Nach Kontroversen in der Einigungsstelle wurde im Juli 2001 diese Vereinbarung zunächst unterzeichnet, da sich der unparteiische Vorsitzende im Konflikt außer Stande gesehen hatte, einen Schiedsspruch zu fällen. Die Zwickmühle: Hätte er die Auffassung der Klinikleitung unterstützt, hätte er bewusst gegen EU-Recht verstoßen. Hätte er dem Betriebsrat Recht gegeben, wäre die Existenz der Klinik in Frage gestellt worden.

Denn Einigkeit besteht zwischen beiden Parteien, dass die umfassende Anwendung des EU-Urteils Schichtdienst und Neueinstellungen von Ärzten zur Folge hätte und der Rissener Klinik zusätzliche Kosten von einer Million Euro enstünden. „Es gibt nicht mehr das Kostendeckungsprinzip für Krankenhäuser“, begründet Personalchef Carsten Pape, weshalb die Klinik die Kosten nicht auf die Kassen abwälzen könne.

Noch bevor die Vereinbarung zum 1. August 2001 umgesetzt wurde, klagte der Betriebsrat (BR) darauf, die Abmachung für „rechtsunwirksam“ zu erklären. Denn das EU-Recht sieht vorrangig die Arbeitsschutzgesichtspunkte. Vize-BR-Chef Nikolas Jürs verweist auf die „Verdichtung der Arbeit“ in der Medizin. Jürs: „Wenn ein Arzt nach acht Stunden Arbeit 12 Stunden Bereitschaftsdienst mit 85 Prozent Auslastung macht, dann ist er nicht einmal nach dem Ausschlafen wieder fit.“

Die Rissener Klinik weigert sich wie alle Krankenhäuser – allein in Hamburger Kliniken müssten 1000 ÄrztInnen eingestellt werden – das EU-Recht umzusetzen und setzen auf Zeit. Und das in der ersten Instanz auch erfolgreich, als Arbeitsrichter Gunnar Rath die Klage aus lapidaren Formalgründen für unzulässig erklärte, um sich vor einer inhaltlichen Entscheidung zu drücken. Das hatte jedoch nun diesen beschleunigten Termin vorm LAG zur Folge, das sich auf keine Formaldebatte einlassen wollte.

„Auch ein armer Arbeitgeber muss sich an Gesetze halten“, begründet der BR-Anwalt Klaus Bertelsmann die Grundhaltung. Richter Nordmann vermochte zwar durchaus den Kostendruck nachzuvollziehen, stellt aber auch den Nutzen der Dienste heraus. „Sie leben doch auch davon, dass jemand bei ihnen nachts eingeliefert werden kann, wenn das Glatteis wieder einsetzt und die Pendler nach Itzehoe ins Rutschen kommen“, so Nordmann. Das Pochen auf die EU-Rechtssprechung erkärt er dem Klinik-Personalchef Pape folgendermaßen: „Auch wenn wir die 2. Instanz sind, haben wir keine Narrenfreiheit, sonst werden sie in Einzelverfahren mit einer Vielzahl von einstweiligen Verfügungen überzogen.“

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