Keine Landidylle: Des Wahnsinns schuppiges Haupt
Vor den multiidiotischen Horden ist man nicht einmal im Ökodorf sicher. Entspannter spaziert es sich über die verwaiste Oranienstraße.
W eil ja im Frühjahr alle corona-klaustrophobe Stadtflucht betrieben und sich auf die letzten freien Butzen am See gestürzt haben wie die Fliegen auf die Kakahaufen, treffe ich mittlerweile mehr Freunde in unserer Bungalowsiedlung in der Uckermark als in Berlin.
In der Stadt wohnen wir zwar alle innerhalb eines 1-Kilometer-Rings, aber sehen tun wir uns an der schilfgesäumten Badestelle am Oberuckersee. Dort besiedeln die Kinder in wühligen Rotten die Donut-Schwimmringe, Float-Sessel und Stand-up-Boards, während wir Erwachsenen Kaffee auf Bänken trinken, treudoof Papierzeitungen mit uns herumtragen und uns über Akku-Heckenscheren und Bodenlacke unterhalten.
Wenn die Boards wieder freigegeben werden, weil die Kinder sich lärmend auf Kletterbäume und Sandgruben verlegen, paddeln wir Erwachsenen in meditativer Ergebenheit über die glitzernd im Spätsommerlicht liegende Wasserfläche, halten Zukunftssorge und Gegenwartsschrecken in ausbalanciertem Gleichgewicht und die Gruseldemo in der Stadt auf dem vielbeschworenen 100-Kilometer-Abstand.
Später beim Veggie-Wurst-Grillen diskutieren wir, wie man den multiidiotischen Horden vor dem Reichstagsgebäude wohl sinnvoll entgegentreten könnte. Ergebnis: irgendwie gar nicht. Darauf stoßen wir an, das Bayrisch Helle in den leicht zitternden Händen. Und erzählen von der Familie, mit der wir im Urlaub in Brodowin ums Stockbrotfeuer standen.
Bange Gewissheiten
Aus Sachsen-Anhalt waren sie ohne Auto angereist, hatten für drei Wochen alles ganz puristisch in Fahrradtaschen mitgebracht, wir waren beeindruckt. Er Consultant, sie Juristin, interessant, die Kombi. Aha, Homöopathie-Fans. Ah, oh, eher doch ausgeprägte Schulmedizin-Skeptiker, nein, radikale Impfgegner gar. Denn: Ließen die in Impfstoffen enthaltenen Metalle unsere Kinder nicht mit biopolitischem Vorsatz verdummen? Habe sich die Politik jemals um die Gesundheit der Menschen geschert? Sei Corona nicht ein planvoll eingerichtetes Scheinszenario, um ebendieses Geld und ebendiese Macht in den Händen der 600 Familien, die das Weltgeschehen …
Da standen wir schön blöd im Ökodorf vor der Feuerschale und hatten bange Gewissheit: Der Wahnsinn erhebt überall sein schuppiges Haupt.
Als Kontrastprogramm zurück in der Stadt dann der Abendspaziergang einmal die Oranienstraße hoch und runter. Auch für einen Montagabend ist es irre leer. Die innen liegenden Gasträume von Restaurants und Bars: leer. Etablissements, die laut Tafel „till late“ aufhaben, sind um 10 Uhr schon zu. Im Schaukasten des SO36 hängt das Programm vom März 2019, quer darüber klebt ein Papierstreifen – ALLES ABGESAGT –, über der verwaisten Tür erinnert ein Transparent an die Ermordeten von Hanau. Nur einer der Spätis hat es offenbar geschafft, zum Nachtlebenmagneten für junge Leute zu avancieren.
Alle anderen Späti-Betreiber lehnen untätig vor ihren frisch renovierten Läden an der Hauswand und stieren ins Leere. Der Busfahrer des M29 bremst mitten auf dem stillen Heinrichplatz, hupt los und brüllt wild gestikulierend aus dem Busfenster heraus: „Ali! Ali! Murat!!!“ Endlich bemerken ihn die Buddys, die noch vor dem Bateau Ivre sitzen, und winken laut johlend zurück. Die zwei versprengten und stark in die Jahre gekommenen Rockabillies vor dem Tiki Heart sprechen Schwäbisch, der Mann mit dem Hoodie, dem Gel in den Haaren und dem wohlfrisierten schwarzen Vollbart sagt an der roten Ampel zu mir: „Komm, jehn wa, da könn' wa sonst lange warten!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands