Kaum Touristen: Der Krieg verändert Polen
Die Beskiden sind eine besondere Landschaft. Wegen des nahen Krieges ist es noch leerer als sonst – der Eindruck der Zerbrechlichkeit kommt auf.
M öchten Sie mal etwas Besonderes sehen? Dann machen Sie doch einen Ausflug zum Touristenpfad in den Beskiden, einem Gebirge im Südosten Polens. Hier kann man Kirchen aus den Epochen der Gotik, der Renaissance und des Barocks besichtigen, die noch aus Holz gebaut sind. Zum Beispiel die schöne Kirche in Sękowa, die fast vollständig mit einem kunstvoll gestalteten Dach aus Brettern bedeckt ist, oder die größte gotische Holzkirche Europas und gleichzeitig die älteste Holzkirche Polens in Haczów.
In den Beskiden findet sich nichts von dem, was der deutsche Soziologe Georg Simmel schon Anfang des 20. Jahrhunderts so heftig kritisierte. Über die beliebtesten Bergziele insgesamt schrieb er: „Nun […] lockt die Bequemlichkeit der Heer- und Herdenstraße, und das bloße räumliche Zusammensein mit der bunten und gerade darum in ihrem Gesamteffekt so farblosen Masse suggeriert uns eine Durchschnittsstimmung, die, wie alle sozialen Durchschnitte, die feiner und höher disponierten herabzieht, ohne den niedrig Veranlagten um ebenso viel zu erhöhen.“
Die Beskiden dagegen sind unscheinbar und wenig bekannt und daher wild, voller Stille und Privatsphäre. Deshalb ist es auch unser bevorzugtes Urlaubsziel.
In diesem Jahr ist jedoch Veränderung zu spüren. Auf den ohnehin meist recht leeren Wanderwegen begegnet man so gut wie niemandem. Zum Teil ist dies auf die Inflation zurückzuführen, die in Polen fast 16 Prozent erreicht hat. Es gibt aber auch einen anderen Grund. In der Idylle der Beskiden vergisst man leicht, dass die Grenze zur Ukraine weniger als 100 Kilometer entfernt ist, und es sind kaum 200 Kilometer bis zur Stadt Lwiw, in deren Nähe vor einem Monat russische Raketen niedergingen. Viele Menschen fragen sich heute, ob hierherzukommen sicher ist. Und sagen sich: Momentan lieber nicht.
arbeitet bei einer Stiftung und der Universität Warschau.
ist tätig am Institut für Recht und Verwaltung der Universität Warschau.
Der Krieg in der Ukraine verändert Polen und andere europäische Länder. Das Wunder der kollektiven Gastfreundschaft gegenüber den fast vier Millionen Flüchtlingen in Polen geht weiter, aber man hat den Eindruck der Zerbrechlichkeit – sowohl dieses Wunders als auch von allem, was uns hier umgibt. Es geht nicht nur um die Angst vor einem militärischen Angriff, vor einer Rakete, die sich in das EU-Gebiet „verirren“ könnte.
Auch andere Stimmungen zeichnen sich ab. Manche sind frustriert, weil viele Ämter in Polen so sehr damit beschäftigt sind, den Ukrainern die nötigen Dokumente auszustellen, dass ihre eigenen Anliegen warten müssen. Oder wenn die Polizei die Zufahrt zu Bahnhöfen sperrt, um für Ordnung zu sorgen. Rechtsextreme Parteien versuchen aus diesen Frustrationen Kapital zu schlagen. Obwohl ihre Popularität am Rande der Prozenthürde liegt, die zu überwinden nötig ist, um ins Parlament zu kommen, gibt es offensichtlich den Wunsch, das Ergebnis der AfD zu wiederholen.
Solche Stimmungen und Versuche, die aktuelle Situation politisch zu nutzen, finden sich auch in anderen europäischen Ländern. Erst vor wenigen Tagen beschuldigten dunkelhäutige Demonstranten in Frankreich die Behörden des Rassismus im Zusammenhang mit dem – ihrer Meinung nach – zu privilegierten Status von Flüchtlingen aus der Ukraine.
Der Urlaub hat etwas Unwirkliches: als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Hier in den Beskiden merken die Touristen fast nichts von den sozialen und geopolitischen Verschiebungen. Die Lage ist dennoch instabil. Sie ist so zerbrechlich wie diese hölzernen europäischen Kulturdenkmäler, die schönen Kirchen. Wir bewundern sie mit dem Gefühl, dass die Zeit schnell vergeht – angesichts eines Kriegs im Ausland, der direkt neben uns tobt.
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