Autorin erforscht ihre Wurzeln: Literarisch-intuitive Spurensuche

Die ukrainisch-deutsche Autorin Katja Petrowskaja, die jetzt in Hamburg liest, setzt sich in ihrem Roman "Vielleicht Esther" die Geschichte ihrer jüdischen Vorfahren aus Erinnerungspartikeln, Archiv-Recherchen und poetologischen Reflexionen zusammen.

Verschwänkt gekonnt Realität und Fiktion: Katja Petrowskaja. Bild: dpa

"Das Gefühl des Verlustes trat ohne Vorwarnung in meine ansonsten fröhliche Welt". Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geborene ukrainisch-deutsche Autorin mit jüdisch-polnischen Wurzeln und inzwischen in Berlin lebend, hat lange nichts gewusst von den Lücken in ihrer Familiengeschichte. Denn ihrer Kindheit gab es viele, die noch weniger Verwandte hatten als sie.

Aber irgendwann wurde ihr klar, dass da etwas war, das Unfassbare der Shoah, vor allem aber: nie erzählte, nie gehörte Geschichten der Verstorbenen. Die vom Großvater, der das österreichische KZ Mauthausen überlebte, aber erst 41 Jahre später zu Frau und Kindern zurückkam; zwischendurch hatte er bei einer andren Frau gelebt.

Petrowskaja ist sicher, dass da etwas passiert sein muss in Mauthausen, 1945, auf dem Todesmarsch der ungarischen Juden - und das habe den Großvater an der Heimkehr gehindert.

Was es ist, versucht Petrowskaja herauszufinden in ihrem Buch "Vielleich Esther", aus dem sie jetzt in Hamburg liest. Sie will schärfen, was verschwommen oder ganz verborgen blieb, und sie tut es weniger auf historische, als auf literarisch-intuitive Art.

Dieses Prozedere ist oft die einzige Chance für eine Nachgeborenen-Generation, die keinen sicht- und befragbaren Stammbaum hat; auch der schwedisch schreibende Gabi Gleichmann, Nachfahr ungarischer Holocaust-Opfer, komponiert 2013 in "Elixier der Unsterblichkeit" so eine fiktive Familiengeschichte; die Französin Soazig Aaron hat es 2003 in "Klaras Nein" getan.

Dabei sind diese literarischen Annäherungen nicht weniger seriös in Absicht und Resultat, als es historische wären; vielleicht sind sie sogar - da aus seelischer Not geboren - liebevoller, zarter, weil sie sich auf so wenige kalte Fakten stützen können. Denn solche "unwiderlegbaren" Fakten betreffen ja meist die Masse der Holocaust-Opfer, sie betreffen Strukturen und Möglichkeiten und erfassen nicht die Wege des Individuums.

Warum zum Beispiel ist Petrowskajas Kiewer Großmutter, obwohl ihr Vermieter sie gedeckt hätte, freiwillig aus dem Haus gegangen in Richtung der Schlucht Babij Jar, wo die Deutschen im September 1941 rund 33.000 Juden erschossen?

Petrowskaja sucht nach Motiven und Spuren, findet Nachbarn, die die Großmutter kannten und kommt schließlich darauf, dass die wohl einfach nicht glauben konnte, dass die "ehrbaren Deutschen" einfach schießen würden. Doch sie erschossen sie "mit nachlässiger Routine", schreibt Petrowskaja.

Genau weiß sie es natürlich nicht, aber es scheint plausibel und legt wenigstens einen kleinen Link zu dem, was Petrowskaja erst spät aus Andeutungen ihrer Eltern schloss: dass auch sie in Babij Jar erschossene Verwandte hat.

Spuren gibt es nämlich keine: Als die Nazis nach der verlorenen Schlacht um Stalingrad 1943 verstanden, dass sie den Krieg verlieren würden, ließen sie auch in Babij Jar die Toten verbrennen und die Massengräber unkenntlich machen, damit die Rote Armee keine Spur des Massakers vorfände. Geblieben ist also nur noch der Ort.

Gegen diese Namen- und Geschichtslosigkeit, die Petrowskaja manchmal ins Bodenlose fallen lässt, schreibt sie an, reist sie an, quer durch Polen und die Ukraine, versucht zu ergründen, was es mit ihrem Großonkel Judas Stern auf sich hatte, der 1932 ein Attentat auf den deutschen Botschafter in Moskau verübte. Oder woher der Name Petrowski kommt: von Sterns Bruder nämlich. Er war ein Revolutionär aus Odessa und wählte dies als Untergrundnamen.

Es klingt wie ein Thriller, und unversehens fragt man sich, ob diese Biographien echt sind oder fiktiv. Sie sind echt, aber eigentlich ist das egal, denn Literatur und Geschichte gehen eine packende Symbiose ein in diesem kunstvoll geflochtenen Text, für den Petrowskaja 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis bekam.

Schließlich ist da noch dieser merkwürdige Titel. "Vielleicht Esther". Esther ist der mutmaßliche Name ihrer Großmutter, aber genau weiß Petrowskajas Vater - Esthers Sohn - es nicht. "Wir haben sie nicht mit Vornamen angesprochen", sagt er nur. Fortan heißt die Figur im Buch "Vielleicht Esther" - und verweist stetig auf den schwankenden Boden von Recherche und Stammbaum-Rekonstruktion.Das muss sein, denn Namen sind enorm wichtig für die jüdische Kultur; um nicht vergessen zu werden, muss der Name festgehalten werden. Nicht umsonst werden bei Gedenkveranstaltungen die Namen der Holocaust-Opfer verlesen um deren gezielte Anonymisierung, die die Nazis betrieben hatten, rückgängig zu machen.

Petrowskaja reiht sich in die Wiederbelebung von Namen und Würde - und das "Vielleicht" ist eine Vorsichtsmaßnahme - für den Fall, dass der Name nicht stimmt. Und immer wieder fragt sich die Autorin, wer eigentlich bürgt für ihr Gedächtnis, für ihre Ideen und vermeintlichen Spuren.Dieser Text, der Historie, Reisebericht und sprachliches Spiel verwebt, wird damit zum großen poetologischen Experiment, eine Reise in Petrowskajas mutmaßliche Vergangenheit.

Und bis zum Schluss reflektiert die Autorin ihre Motivation, bis sie bemerkt: Sie braucht diese - wenn nicht faktisch überprüfbaren, dann wenigstens literarisch verbürgten - Geschichten, um den Phantomschmerz der fehlenden Familienüberlieferung zu lindern. Und um das Verlorene durch sprachliche Beschwörung zurückzugewinnen.

Lesung Katja Petrowskaja: 24. 6., 19.30 Uhr, Hamburg, Bücherhalle Holstenstraße, Norderreihe 5-7

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.