Katja Kipping über ihre Zukunft: „Sie werden weiter von mir hören“
Katja Kipping über ihre Entscheidung, nicht mehr als Linken-Parteichefin zu kandidieren, mögliche Nachfolger:innen und die Chancen von Rot-Rot-Grün.
taz: Frau Kipping, Sie sind seit acht Jahren Parteivorsitzende der Linken. Wann haben Sie sich entschlossen, nicht mehr zu kandidieren?
Katja Kipping: Im März. Dann hat uns Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht. In so einer Situation wäre es verantwortungslos gewesen, eine Nachfolgediskussion anzuzetteln. Deshalb haben wir die Information über die Entscheidung verschoben.
Gerade in den letzten Monaten sind Sie sehr präsent, etwa mit dem Appell, dass die Linkspartei im Bund Regierung wagen soll. Bedauern Sie, gerade jetzt abzutreten, wo es ganz gut läuft?
Was wir erreicht haben, haben wir nicht erst in den letzten Monaten erreicht. Als ich 2012 Parteivorsitzende wurde, drohten wir in Umfragen unter die Fünfprozenthürde zu fallen. Die Linke bestand praktisch aus zwei Parteien, die irgendwie zusammengeklammert wurden. Einige führten noch einen Scheidungskrieg mit der SPD. Wir sind jetzt eine gesamtdeutsche sozialistische Partei, die kampagnenfähig ist. Wir haben Zukunftsthemen wie Digitalisierung und Klimaschutz in der Partei stark gemacht und waren bei Sanktionsfreiheit und Kindergrundsicherung soziale Trendsetterin. Aktuell konnten wir sehen: Ohne interne Querelen ist die Partei eher in der Lage, gesellschaftlich Themen zu setzen.
Die Linkspartei ist in einer zentrale Frage noch immer gespalten: Will sie regieren?
Klar wird die Regierungsfrage diskutiert. Aber wir haben Fortschritte gemacht. In der PDS war die Debatte grundsätzlich: Bist du für Opposition oder für Regierung? Mit der Neugründung der Linken kamen rote Haltelinien, die richtig sind, aber nicht reichen. Bernd Riexinger und ich haben darauf gedrängt, nicht bloß zu sagen, was wir nicht wollen, sondern offensiv Inhalte zu formulieren, die wir umsetzen wollen. Wir sollten nicht nur über Gefahren, sondern auch über Potenziale reden. Wir haben eine Verantwortung, einen Politikwechsel durchzusetzen, angesichts von sozialer Spaltung und von existenziellen Bedrohungen wie Klimakrise und militärischen Interventionen.
Ist Rot-Rot-Grün im Bund nicht eine Seifenblase? In Umfragen ist eine Mehrheit fern. Die Grünen blinken Richtung Union, die SPD ist schwach wie nie.
Vor der Coronakrise hatten die Parteien links der Union zusammen fast 50 Prozent. Die 37 Prozent der Union sind 37 Prozent Angela Merkel. Doch die tritt nicht mehr an. Das kann eine Dynamik erzeugen, die wir nutzen sollten.
sitzt seit 2005 für die Linkspartei im Deutschen Bundestag. Seit 2012 ist sie gemeinsam mit Bernd Riexinger Parteivorsitzende. Am Freitag gab Kipping bekannt, dass sie nicht erneut für dieses Amt kandidieren möchte.
Sie stehen für diese Offenheit. Ist es nicht das falsche Signal, dass Sie ein Jahr vor der Bundestagswahl Ihren Job aufgeben?
Ich bin ja nicht weg. Sie werden schon weiterhin von mir hören. Und bin zuversichtlich, dass es in der neuen Parteispitze Personen gibt, die für Regierung in Bewegung so leidenschaftlich stehen wie ich. Als ich in die PDS eingetreten bin, galten wir als Schmuddelkind. Verabschiedet euch von Kapitalismuskritik und Friedenspolitik, dann reden wir mit euch, hieß es. Wir haben keinen Kniefall vor dem Kapitalismus oder dem Militarismus gemacht. Wir stellen die Eigentumsfrage – zum Beispiel bei der Initiative, die Deutsche Wohnen und Co zu enteignen. Trotzdem sind wir inzwischen ein anerkannter Teil der politischen Landschaft. Wir stellen in Thüringen den MP und wir regieren in Bremen, in einem westdeutschen Bundesland, mit.
Wird die Linkspartei also auf dem Parteitag ein klares Signal für ein mögliche Regierungsbeteiligung im Bund senden?
Auf jeden Fall ein klares Signal für einen sozialökologischen Systemwechsel und dafür, Bündnisse zu schmieden, Brücken zu bauen. Ich bin zudem zuversichtlich, dass in den neuen Parteivorstand Leute gewählt werden, die für neue linke Mehrheiten brennen.
Eine der potenziellen Kandidatinnen für den Parteivorsitz, Janine Wissler, hat beim Strategietreffen in Kassel unter Beifall gerufen: Es rettet uns kein höh’res Wesen und auch kein linker Minister. Also: Opposition ist alles, Regieren ist Mist?
Damit tut man Janine unrecht. In Hessen hat sie schon 2008 einen Tolerierungsvertrag mit der SPD ausgehandelt. Rot-Rot-Grün ist dort definitiv nicht an der Linkspartei gescheitert.
In der Linkspartei sind viele Fragen ungeklärt: Grundeinkommen, Europäische Union, UN-Einsätze im Ausland. Wieso ist es so schwierig für die Linkspartei, eine gemeinsame Perspektive zu entwickeln?
Das sehe ich ganz anders. Die Richtung ist bei uns klarer als bei den Grünen, die offen für Schwarz-Grün mit bloßen ökologischen kosmetischen Korrekturen sind. Wir wollen Klimaschutz, Friedenspolitik und sozialen Fortschritt. Zu Europa gibt es bei uns Diskussionen. Aber die Veränderungen der europäischen Politik durch Corona sind fundamental und spielen uns in die Hände. Jahrelang haben uns die Schäubles dieser Welt erklärt, die EU-Verträge würden Austerität vorschreiben. Seit Corona ist das Geschichte. Denn es ist deutlich geworden: Geld für Investitionen ist da.
Als Sie 2012 Parteivorsitzende wurden, spielte die ostdeutschen Landesverbände noch eine dominierende Rolle. Fast überall haben sich die Wahlergebnisse seitdem halbiert, auch in Ihrer Heimat Sachsen. Hat sich die Linkspartei im Osten zu wenig um ihre Stammklientel gekümmert?
Natürlich brauchen wir auch im Osten viel mehr Einsatz für direkte Gespräche, wie Haustürbesuche und Organizing. Dafür habe ich mich auch persönlich sehr engagiert.
Gelingt mit Haustürwahlkampf die Trendumkehr im Osten?
Entscheidend ist, dass wir im Osten, egal ob wir regieren oder nicht, eine rebellische Grundhaltung haben. Wir müssen mehr auf Attacke schalten. Auch im Bund heißt das Ziel neue linke Mehrheiten für mich nicht, dass wir staatstragend werden.
Die Linkspartei hat im Osten viele Wähler:innen an die AfD verloren. Warum hatten Sie dagegen kein Konzept?
Wir haben im Herbst 2015, als das Thema Geflüchtete dominant wurde, eine soziale Offensive für alle gefordert. Die Merkel-Regierung hatte in der Finanzkrise eine Garantie für die Bankeinlagen ausgesprochen, wir wollten 2015 eine Sozialgarantie. Mehr Busse in die Dörfer, mehr sozialen Wohnungsbau, mehr öffentlich geförderte Beschäftigung, Schutz vor Armut usw.
Das ist offenbar verhallt.
Wir sind in der Öffentlichkeit damit nicht durchgedrungen, weil die internen Streits über das Trennende bei Migration und Milieus das verbindende Thema Sozialgarantie übertönten.
Ohne den Streit mit Sahra Wagenknecht über die Migrationspolitik hätte die Linkspartei also keine Wähler:innen an die AfD verloren?
Nein, es ist abwegig, das auf eine Person zuzuspitzen. Wir haben uns eine Debatte über Milieus aufdrängen lassen, die uns geschadet hat. Als Wahlkämpferin frage ich die Leute: Wo drückt Sie der Schuh? Wenn ich über Milieus räsonieren wollte, wäre ich Soziologieprofessorin geworden. Wenn wir mehr das Gemeinsame betont hätten, wäre das besser gewesen. Jetzt, nach drei Jahren, sind wir wirklich weiter. Wir stehen zusammen für Solidarität und soziale Offensive.
Wagenknecht und andere haben auch vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung die Bewegung „Aufstehen“ gegründet. Hatten Sie mal Angst, dass sich die Partei spaltet?
Es war eine Weile unklar, ob „Aufstehen“ eine Internetplattform bleibt oder doch eine Wahlplattform wird, die bei der Europawahl als Konkurrenz antritt.
Sie haben als Parteichefin versucht, eine junge, urbane Klientel zu gewinnen. Das war nur kurz erfolgreich …
Ich kann das Wort urban nicht mehr hören. Ich war gerade in Sachsen in Kleinstädten und auf dem Land unterwegs …
Aber Sie sind in der Großstadt geboren und leben in der Großstadt …
Ich hoffe doch sehr, dass man sich bei uns nicht dafür entschuldigen muss, wo man geboren wurde. Wenn jeder, der sich in der Partei gegen das urbane Milieu abgrenzt, mit mir in die Plattenbauten oder vors Jobcenter ginge, wären wir einen Schritt weiter. Die Milieudiskussion ist eine in der Politikblase. Die Debatte, ob man Filterkaffee oder Latte macchiato trinkt, sollte für Linke nicht entscheidend sein. Eine sozialistische Partei muss das Verbindende betonen und keine soziokulturellen Ressentiments schüren. Die 4-Tage-Woche zum Beispiel, die ich als Thema forciert habe, stößt bei der IG Metall und Stahlarbeitern ebenso auf Interesse wie bei IT-Arbeitern am Laptop.
Der Konflikt Land gegen Stadt, Globalisierungsverlierer gegen Eliten ist doch real. Die Erfolge der AfD sind doch auch Ergebnis dieses Konflikts.
Die AfD lebt von dem Protestgestus gegen die da oben, real richtet sie sich aber gegen Ärmere und Andere. Dagegen sollten wir vielmehr den eigenen linken Punkt setzen und der lautet: Solidarität statt Spaltung.
Als potenzielle Nachfolger:innen werden unter anderem Janine Wissler, Susanne Hennig-Wellsow, Ali Al-Dailami genannt. Rechnen Sie bis zum Parteitag noch mit Überraschungskandidaten?
Es ist beides möglich. Dass es nur zwei Kandidaturen gibt oder dass es auf beiden Plätzen konkurrierende Kandidaturen gibt. Was mir wichtig war, dass es mindestens zwei überzeugende Kandidaturen gibt. Die Wahl trifft dann der Parteitag.
Fänden Sie eine weibliche Doppelspitze gut?
Eine Äußerung dazu würde sofort als Empfehlung übersetzt.
Als Sie Parteivorsitzende wurden, haben Sie noch getanzt. Später angefangen mit Kickboxen. Ist das die geeignetere Sportart, um sich in der Linkspartei durchzusetzen?
Ich bin ja weiterhin in meiner Tanzgruppe in Dresden. Kickboxen geht wegen Corona gerade nicht. Ich hoffe, ich kann demnächst wieder die Boxhandschuhe anziehen.
Kandidieren Sie wieder für den Bundestag?
Ich werde mich wieder für ein Direktmandat in Dresden bewerben.
Und werden dann Hinterbänklerin im Bundestag? Oder wollen Sie doch an die Fraktionsspitze?
Ich denke jetzt an die zwei Monate bis zum Parteitag in Erfurt, noch nicht an die Zeit danach.
Haben Sie keine Pläne für November, wenn der Parteitag vorbei ist?
Doch. Über einen kann ich auch schon sprechen. Meine Tochter hat Geburtstag. Und wir fangen jetzt schon mit den Planungen an, denn die große Frage ist: Wie sieht ein Kindergeburtstag im Corona-November aus?
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