Kanzler Scholz vor UN-Vollversammlung: Recht vor Gewalt

Als „Akt der Verzweiflung“ bezeichnet der Kanzler Putins neueste Drohungen. Auch Biden und Macron stellen klar: Sie stehen hinter der Ukraine.

Eine Person hinter einem Rednerpult hält ein Buch in die Höhe

Bundeskanzler Olaf Scholz mit einem Exemplar der UN-Charta am 22. September in New York Foto: Jason Decrow/ap

NEW YORK taz Teilmobilmachung – dieses Wort geisterte schon am Dienstag durch die Reihen der Delegationsteilnehmer:innen, die mit Bundeskanzler Olaf Scholz zur UN-Generalversammlung nach New York gereist waren. Eigentlich war die Rede des russischen Präsidenten schon am Dienstagabend erwartet worden.

Hätte Putin sich an diesen Zeitplan gehalten, wäre die Rede des deutschen Bundeskanzlers vor der Staatengemeinschaft sicher eine andere gewesen. Putin entschied sich für den Mittwochmorgen und Scholz holte um acht New Yorker Ortszeit in einem Park unter Platanen nach, was er sonst vielleicht zwölf Stunden zuvor in der Versammlungshalle unter dem UN-Logo gesagt hätte.

„Die jüngsten Entscheidungen der russischen Regierung sind ein Akt der Verzweiflung“, sagte Scholz. „Russland kann diesen Krieg nicht gewinnen.“ Und mit den jüngsten Entscheidungen mache Putin alles noch viel schlimmer. „Die jetzt angekündigten Scheinreferenden werden niemals akzeptiert“, sagte Scholz mit finsterem Blick. Weder vom ukrainischen Volk, aber auch nicht von der Weltgemeinschaft. „In der Welt, in der wir leben, muss das Recht über die Gewalt siegen, aber nicht die Gewalt stärker sein als das Recht.“

So steht es sinngemäß auch in der Charta der Vereinten Nationen, die die Gründungmitglieder, darunter die Sowjetunion, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in San Francisco unterzeichneten. Auch Russland, das sich als Nachfolger der SU sieht, bekennt sich offiziell zur Charta, die russische Flagge ist eine von 193, die in diesen Tagen auf der United Nations Plaza wehen.

Westen verurteilt Russland

In dieses Treffen der Weltgemeinschaft hinein platzte erst die Nachricht über die bevorstehenden „Referenden“ in den sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk und am Mittwoch der Erlass zur Teilmobilmachung in Russland. Der Krieg in der Ukraine war aber auch ohne die neuen Hiobsbotschaften eines der bestimmenden Themen auf der 77. Generalversammlung.

Auch Scholz, der zuvor am Dienstagabend um 20.30 Uhr New Yorker Zeit ans Pult trat, nutzte die Weltbühne, um den russischen Krieg, wie schon zahlreiche Vorredner:innen, zu verurteilen: „Das ist blanker Imperialismus“. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron hatte diesen Begriff in seiner Rede an die Welt gebraucht.

Der amerikanische Joe Biden warf Russland mit seinem „brutalen, unnötigen Krieg“ eine schamlose Verletzung der UN-Charta vor. Die Ankünding der Einberufung neuer Soldaten für diesen Krieg und auch die angekündigten Scheinreferenden stellten eine weitere schwerwiegende Verletzung der Prinzipien der Charta dar. Biden stellte klar: „Niemand hat Russland bedroht.“ Putin wolle das Recht der Ukraine als Staat zu existieren auslöschen. „Wo immer ihr lebt und woran ihr glaubt, dass muss Euch das Blut in den Adern gefrieren lassen“, wandte sich Biden an die Ver­tre­te­r:in­nen der Staaten im Saal.

Biden betonte auch die 25 Milliarden Dollar an Militärhilfe. Man werde Russland für die Verbrechen in der Ukraine zur Rechenschaft ziehen. Auch Scholz hatte mit leiser Stimme verkündet, man unterstützte die Ukraine dabei mit aller Kraft: finanziell, wirtschaftlich, humanitär und auch mit Waffen.

Doch es gibt Zweifel, ob Deutschland die Ukraine militärisch tatsächlich mit aller Kraft unterstützt. Deutschland ist der zweitgrößte Geldgeber der UN, und die Rufe, sich gemäß seiner Wirtschaftsgröße als politische, aber auch als militärische Führungsmacht zu engagieren, mehren sich. Die US-amerikanische Botschafterin in Berlin, Amy Gutman, hatte in der vergangenen Woche Deutschland für seine Unterstützung der Ukraine gelobt, aber auch den zarten Hinweis gegeben, dass sich die USA eine noch größere Führungsrolle von Deutschland erwarteten.

Ruhepuls: intakt

Scholz bezog das freilich im Interview mit dem Deutschlandfunk am Wochenende nicht auf die vieldiskutierte Lieferung von Schützen- und Kampfpanzern. Begründung: Andere Länder, zuvörderst die USA, liefern auch keine, wir machen keine Alleingänge.

Die Union forderte nun erneut, dass Scholz seine Zurückhaltung aufgebe. „Es ist höchste Zeit, dass Deutschland endlich den entscheidenden Schritt geht und Kampf- und Schützenpanzer westlicher Bauart liefert“, so der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Johann Wadephul, am Mittwoch: „Das Material steht bereit, andere Allianzpartner würden umgehend folgen.“

Doch eine solche prompte Reaktion auf die russischen Teilmobilmachung ist eher unwahrscheinlich. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gab am Mittwoch die Parole aus: Wir bleiben ruhig.

Auch der Ruhepuls des Kanzlers ist intakt. Zumal der Druck auf ihn, endlich die von der Ukraine begehrten Panzer zu liefern, in New York deutlich schwächer ist als in Berlin. Eine größere Rolle spielte in der UN-Generalversammlung vielmehr ein anderes Thema, das direkt mit dem Krieg zusammenhängt: die westlichen Sanktionen gegen Russland.

Krieg der Narrative

Kaum ein Land des Globalen Südens trägt sie mit. Dort herrscht die Auffassung: Das ist euer Konflikt. Löst ihn. Die Folgen bekommen die Schwellen- und Entwicklungsländer ja dennoch zu spüren: steigende Energiepreise, überteuerte Lebensmittel. Und die russische Erzählung, der Westen mit seinen Sanktionen sei schuld daran, verfängt.

Es ist auch ein Krieg der Narrative. Scholz ging in New York rhetorisch in die Offensive: „Nicht ein Sack Getreide wurde aufgrund dieser Sanktionen zurückgehalten.“ Russland allein habe die ukrainischen Getreideschiffe am Auslaufen gehindert.

Doch der Kanzler weiß auch: Mit warmen Worten lassen sich die Länder des Südens nicht abspeisen, es geht darum, Vertrauen zurückzugewinnen. Noch bevor er in der Generalversammlung sprach, redete der Kanzler am Dienstag auf einem Gipfel zur Ernährungssicherheit, den der Vorsitzende der Afrikanischen Union, der senegalesische Präsident Macky Sall, einberufen hatte.

Scholz erinnert daran, dass Deutschland seinen Beitrag für Ernährungssicherheit verdoppelt habe und in diesem Jahr 4 Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Dennoch: Bei 345 Millionen Hungernden weltweit reicht das bei Weitem nicht. Zumal der Ukraine­krieg die Hungerkrisen nur verschärft hat, die Zahl der Hungernden steigt seit mehreren Jahren. Der entscheidende Treiber ist der Klimawandel, mit Dürre, Hitzewellen und Überflutungen.

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