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Immer mehr linke Gruppen machen Stadtteilarbeit. Auch die Partei Die Linke will als Kümmerer auftreten und vor Ort helfen. In Bremen-Hemelingen baut sie ihre Strukturen aus
Aus Bremen Lukas Scharfenberger (Text) und Hannes von der Fecht (Fotos)
Die Sonne scheint auf die ehemalige Wurstfabrik Könecke in Bremen-Hemelingen. Am Fenster des alten Verwaltungsgebäudes hängt ein Fanschal mit der Aufschrift „Mietendeckel-Ultras“. Die Linke Hemelingen hat hier ihre Räume. Rund ein Dutzend Mitglieder der Partei sind mit der Vorbereitung für das heutige Grillfest beschäftigt. Während ein Genosse den Grill reinigt, decken andere das Buffet und stellen Getränke bereit. Rechts daneben steht eine große Tafel, auf der die Genoss*innen Probleme aufschreiben wollen.
Das Grillfest ist die Auftaktveranstaltung einer längeren Aktionsphase, um die Präsenz zu erhöhen. Eingeladen sind neben den Anwohner*innen vor allem Parteimitglieder. Die Linke will auf dem Fest mit den Leuten ins Gespräch kommen, über Probleme vor Ort reden und Neumitglieder für die Parteiarbeit begeistern. Immer mehr Linke kommen über den sonnenbeschienen Platz zur Wurstfabrik. Ein großer Mann in kurzer Hose und mit breitem Lächeln begrüßt sie. Max Petermann kennt hier jeden, das Projekt war seine Idee. „Im Haustürwahlkampf hat es total Spaß gemacht, mit den Menschen zu sprechen, die konkret von der Politik, die wir bekämpfen, betroffen sind“, sagt er. Um auch außerhalb des Wahlkampfes in Kontakt zu bleiben, hat er sich „die Linke vor Ort“ ausgedacht.
Ein halbes Jahr – von Mai bis Oktober – will Petermann mit seinem Projekt in Hemelingen arbeiten und danach in andere Stadtteile weiterziehen. Die Partei will ihre Strukturen ausbauen, auch um die zahlreichen Neumitglieder einzubinden. In der Stadt Bremen sind es seit Jahresbeginn etwa 820, etwa 110 davon alleine in Hemelingen.
Außerdem will die Partei auch mehr im Stadtteil wahrgenommen werden. Geplant sind neben weiteren Festen Haustüraktionen, um den Menschen näher zu kommen, zuzuhören und die kostenlose Sozialsprechstunde der Partei zu bewerben. Diese steht künftig jeden Mittwoch allen Hemelinger*innen von 17 bis 18.30 Uhr offen.
Die Sozialsprechstunde leitet Ayke Chmielewski. Der 36-Jährige Hemelinger steht am Rand des Grillfestes und raucht. Er sieht seine Aufgabe darin, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, „um sich gegen Vermieter*innen, Arbeitgeber*innen oder das Jobcenter zu wehren“, wie er sagt. „Wenn man beispielsweise Sanktionen vom Jobcenter bekommt, können wir erklären, wie man Widerspruch dagegen einlegt. Das können wir auch gemeinsam machen, optimal wäre aber, der Person zu helfen, solche Widersprüche selbst zu formulieren.“
Wenn er von Hemelingen erzählt, merkt man, dass er sich hier zu Hause fühlt. „Es ist ein Stadtteil, den man gerne durchstreift, aber es ist traurig, dass auch hier die Spaltung so groß ist“, sagt er. Bei der Bundestagswahl erzielte die Linke in Hemelingen mit 13,6 Prozent zwar ein Ergebnis, das über dem Bundesdurchschnitt lag, aber sie landete deutlich hinter der AfD, die auf 20,0 Prozent kam, hinter der SPD (23,9), aber noch vor der CDU (19,3).
Chmielewski begründet sein Engagement mit dem Rechtsruck. Als die CDU Ende Januar mit Stimmen der AfD eine Abstimmung im Bundestag über einen Antrag zur Migrationspolitik gewann, war das für ihn ein Alarmzeichen. „Mir war klar, dass ich nicht mehr sicher bin, wenn das so weitergeht. Ich habe Angst, dass mir aufgrund meines Migrationshintergrunds Gewalt angetan wird.“ Der Rechtsruck ist auch der Grund, weswegen er die Sozialberatung machen nöchte: „Wir leben hier alle miteinander und die Probleme im Stadtteil können wir nur gemeinsam lösen“, sagt er.
Die Sozialberatungen werden immer von zwei Menschen durchgeführt, laut Chmielewski zum einen wegen der Sicherheit, zum anderen, um möglichst viele Themen abzudecken. Im Mietrecht zum Beispiel kenne er sich nicht aus, „in dem Fall wäre es gut, wenn jemand anderes dabei wäre“. Sonst könne man sich ja immer noch an den Mieterschutzbund wenden.
Probleme, deren sich die Linke annehmen kann, gibt es in Hemelingen genug. Der am östlichen Stadtrand von Bremen gelegene Stadtteil ist von Gewerbegebieten und Industrie geprägt. Mercedes-Benz ist hier der größte Arbeitgeber. Allerdings sind auch große Firmen weggezogen. Die Wurstfabrik Könecke schloss 2012 ihre Tore, fünf Jahre später folgte das Abfüllwerk von Coca-Cola.
11,1 Prozent der Hemelinger*innen waren 2023 arbeitslos. Die Quote liegt zwar etwas niedriger als im Bremer Durchschnitt von 12,2 Prozent, aber das liegt daran, dass sich die fünf Ortsteile, aus denen sich der Stadtteil zusammensetzt, stark voneinander unterscheiden. So waren im gut situierten Arbergen nur 5,9 Prozent arbeitslos. Rund um die Wurstfabrik, im Ortsteil Hemelingen selbst, lag die Arbeitslosenquote hingegen bei 15,2 Prozent.Sozialsprechstunden der Linken gibt es bereits in anderen Bremer Stadtteilen, etwa im Viertel und in der Neustadt. Sie werden von der Parteiorganisation „Linke hilft“ organisiert, die bundesweit mit 120 Beratungsangeboten am Start ist.
Die Linke will so als „Kümmererpartei“ wahrgenommen werden, die die konkreten Probleme vor Ort angeht. Diesen Status hatte die Partei nach der Wende lange Zeit im Osten inne, nun will sie wieder so gesehen werden, auch im Westen. Dieser praktische Ansatz könnte viele der zahlreichen Neumitglieder motivieren, die vermutlich mehr Lust auf Stadtteilarbeit als auf langwierige Parteigremien haben..
Die Sozialberatung der Linken ist innerhalb der Parteienlandschaft relativ einzigartig. Vergleichbare Angebote gibt es bei anderen Parteien kaum. Zwar bieten alle Parteien sogenannte Bürgersprechstunden bei den jeweiligen Abgeordneten an, konkrete Hilfe bei Problemen gibt es dort aber nicht.
Das Basisarbeit erfolgreich sein kann und sogar Wahlen gewinnt, hat die Linke spätestens bei der letzten Bundestagswahl gelernt: In Berlin-Neukölln klingelten etwa 2.000 Unterstützer*innen an 139.000 Haustüren, um Werbung für den Linken-Kandidaten Ferat Koçak zu machen. Der gewann dann auch das Mandat.
Das immer mehr politisch links denkende Menschen konkrete Hilfe leisten wollen, sieht man auch an der Zunahme zivilgesellschaftlicher Stadtteilarbeit. In Bremen steht beispielsweise die Initiative „Solidarisch in Gröpelingen“ kurz davor, in einen weiteren Stadtteil zu expandieren und auch dort eine Beratungsstelle aufzumachen. Die hierfür nötigen Spenden hat die seit 2016 bestehende Stadtteilarbeitsgruppe bereits zusammen.
„Solidarisch in Gröpelingen“ hilft wie die Sozialbereatung der Linken bei konkreten Problemen mit Jobcenter, Arbeit, Miete oder Aufenthaltsstatus, aber sie will noch mehr. „Wir schreiben Briefe, gehen mit vor Gericht, begleiten zum Jobcenter, aber halten auch Kundgebungen ab. Wir kombinieren also verschiedene Ansätze, die weit über eine Beratungsstelle hinausgehen“, sagt Arwed Junglas von „Solidarisch in Gröpelingen“.
Langfristig hofft die Gruppe auf diese Weise, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern. „Solidarisch in Gröpelingen“ ist eine Art Pionierorganisation im Bereich der Stadtteilarbeit. „Wir haben viele Erfahrungen gesammelt im Verlauf der Jahre und gesehen, was funktioniert und was nicht“, sagt Junglas. Diese Erfahrungen habe man in Vorträgen und Veröffentlichungen weitergegeben. „Mittlerweile gibt es viele andere Gruppen in anderen Städten, sodass wir auch von den anderen lernen können“, sagt er. Unter anderem haben sich in Erfurt, Jena, Münster, Wilhelmsburg, Frankfurt, Hamburg, Potsdam, Kiel, Oldenburg und Bremen in den letzten Jahren neue Stadtteilgewerkschaften gebildet.
Junglas sieht die Linke nicht als Konkurrenz. Er erhofft sich sogar, dass die eigene Arbeit leichter wird, wenn es eine starke linke politische Kraft gibt. Eine Zusammenarbeit sieht er trotzdem kritisch. „Die Geschichte linker Bewegungen hat gezeigt, dass Parteien, die an die Macht kommen, häufig die Basisorganisationen entmachten, welche sie dorthin gebracht haben. Wir wollen kein Vorfeld sein und unabhängig bleiben.“
Arwed Junglas, „Solidarisch in Gröpelingen“
Beim Grillfest der Linken in Hemelingen ist es mittlerweile gut voll. Ein Genosse ruft: „Will noch jemand eine richtige Wurst?“ Er hält kurz inne und erklärt: „Also eine mit Fleisch meine ich.“ Wieder eine kurze Pause, und dann, nur um es klarzustellen: „Also ich esse die selber nicht.“ Tatsächlich werden sowohl die „richtigen Würste“ als auch die veganen gegessen.
Eines der Neumitglieder der Partei ist Rene Breuning. Der 24-jährige Informatikstudent wohnt in Hemelingen, eingetreten ist er kurz nach dem Bruch der Ampelkoalition im November 2024. Die Entscheidung sei aber schon nach dem Rechtsruck bei der letzten Europawahl gereift. „Weil ich keiner kleinen Partei beitreten wollte, habe ich gedacht, dass die Linke eigentlich die beste Option ist“, sagt Breuning.
Er befürchtet wie Chmielewski, dass die AfD immer stärker wird. Er selbst erlebe zwar wenig Rassismus in Hemelingen, glaubt aber, dass das nicht für alle gilt. „Ich bin nicht so dunkel und mein Deutsch ist gut. Ich vermute ich werde häufiger als ‚guter Ausländer‘ abgestempelt“, sagt er.
In der Linken sieht er auch einen Zufluchtsort. „Man fühlt sich bei der Linken in einer Gruppe, die versucht, einen zu verstehen, und die sich über Rassismus austauscht.“ Allerdings könnte die Sensibilisierung noch deutlich weiter gehen. „Die Linke ist schon noch sehr weiß. Ich glaube, man könnte noch mehr für Menschen mit Migrationshintergrund machen.“
Breuning glaubt, dass ein Dialog Menschen davon abhalten kann, die Rechten zu wählen. „Eine AfD-Wählerin hat mir im Wahlkampf gesagt, dass die Politik eh nicht auf sie hört. Ich glaube, dieses Gefühl – wir sind von der Politik verlassen –, das kann man mit der Linken vor Ort gut angehen.“
Bei der Bundestagswahl war die Linke in Hemelingen die Partei mit den zweitstärksten Zuwächsen (plus 7,5 Prozent) – nach der AfD (plus 10 Prozent). „An einem Infostand habe ich mit einer Frau gesprochen, die meinte, dass die Linke die beste Partei wäre und auf Platz zwei die AfD“, sagt der Linke-Bürgerschaftsabgeordnete aus Hemelingen, Tim Sültenfuß. „Sie wusste gar nicht, dass die AfD Politik vor allem für Reiche macht. Sie war total überrascht, aber hat mir geglaubt. Es gibt hier echt einige Leute, die man davon überzeugen kann, nicht die AfD zu wählen.“
Dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen, ist auch für „Solidarisch in Gröpelingen“ wichtig: „Die Rechten haben im Osten schon viele Jahre erfolgreich Basisarbeit geleistet und die Linken nicht. Das Ergebnis sieht man jetzt. Die Idee, eine bessere linke Parallelgesellschaft aufzubauen, ist gescheitert“, sagt Junglas. „Wir müssen in die Gesellschaft hineintreten und uns organisieren. Wir müssen verstehen, dass wir als Linke auch Teil der Ausgebeuteten sind.“
Mit Menschen, die die AfD wählen, diskutiert „Solidarisch in Gröpelingen“, solange sie nicht für die Partei kandidieren. „Oft geht es nicht ums Inhaltliche, sondern um im Vorhinein aufgebautes Vertrauen. Das nutzen wir in solchen Gesprächen“, erklärt Junglas.
Zu dem Grillfest kommen auch eine Handvoll interessierter Anwohner*innen. Zwei von ihnen sind Thomas und Insa. Die beiden 58-Jährigen sitzen am Rand der Veranstaltung auf einer Bierbank und sind im Gespräch mit Mitgliedern der Linken. Vom Fest erfahren haben die beiden über einen Flyer in einem der beiden Sozialkaufhäuser im Stadtteil.
Thomas lebt nach einer Reha vom Bürgergeld, möchte aber bald wieder arbeiten gehen. Er beschwert sich über teuren Leerstand in Hemelingen. „In der Christenstraße sind drei wirklich schöne Wohnungen. Ich bin seit 2019 hier, seitdem stehen die leer“, sagt er. „Nagelneu, der Rasen wird gepflegt, aber da wohnt keiner drinnen“, sagt er fassungslos. Der Grund für den Leerstand sei die hohe Miete. Seine Wut merkt man deutlich, wenn er jedes Wort betont: „1.700 Euro! Der Wahnsinn! Wer soll sich das leisten können?“
Der Leerstand ist besonders für Insa ärgerlich. Die ebenfalls 58-jährige Physiotherapeutin ist zu Besuch aus dem ostfriesischen Leer und würde gerne hierher ziehen. „Meine Tochter ist aus dem Haus, und ich würde mich gerne noch mal verändern.“ Das Problem ist nur, dass sie keine Wohnung findet. „Es ist ganz schwierig, in Bremen Fuß zu fassen. Ich habe bisher kein einziges Wohnungsangebot bekommen“, sagt sie.

Ina findet es „super, dass die Linke hier Sprechstunden anbietet“. Thomas pflichtet ihr bei: „Seit 2019 ist hier noch keine Partei vorbeigekommen, das ist richtig gut, dass die das machen.“
Trotz dieses positiven Feedbacks bewertet die Linke das Grillfest durchaus gemischt. Auf einem Evaluationschart hält die Partei fest, dass man zwar Neumitglieder aus dem Stadtteil erreicht habe, aber keine neuen Leute für Haustüraktionen gewinnen konnte. Positiv sei aber, dass das Event der Sichtbarkeit des Projektes innerhalb der Partei gefördert habe. Für zukünftige Events wird angeregt, mehr Angebote für Familien zu schaffen.
Wenige Tage später sammeln die Genoss*innen bei Haustürgesprächen Eindrücke von den Problemen im Stadtteil. Lärmschutz, schlechte Parkmöglichkeiten, Bauschutt auf den Straßen und fehlende Aufenthaltsmöglichkeiten für Jugendliche wurden häufig genannt. Gut angekommen seien der Heizkostencheck und die Sozialberatung. „Ganz viele haben aber auch gesagt, dass sie keine Probleme haben“, sagt Chmielewski. „Wir waren aber auch in Hastedt unterwegs, wo du noch relativ viele ökonomisch starke Anwohner*innen hast“, so seine Erklärung.
Auch die Sozialsprechstunde läuft langsam an. Am ersten Termin kommt keine Hemelinger*in vorbei, und auch in der Woche drauf bleibt die Sprechstunde leer. Chmielewski zeigt sich unbeeindruckt: „Ich bin mir sicher, dass dauert noch bis Leute kommen, dafür müssen wir erst noch bekannter werden.“ Seine Prognose: In etwa ein bis zwei Monaten beginnt das Angebot zu laufen.
Auch Junglas von „Solidarisch in Gröpelingen“ plädiert für Optimismus: „Das höre ich auch aus anderen Städten. Erst kommt niemand, und dann wird man überrannt, wenn es sich herumgesprochen hat und weiterempfohlen wird.“
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