Kampf um Aleppo: Gewalt am Rande des Krieges
Aleppo ist zum Zentrum des Krieges geworden und die Kriminalität dort nimmt zu. Die Rebellen versuchen, eine neue Autorität aufzubauen, aber ihr Ruf ist schlecht.
ALEPPO taz | Die Männer kamen am Morgen, sagt Abu Ahmed. Sie hätten ihn bedroht, erpresst. Abu Ahmed hatte vor, zwei Maschinen aus seinem Betrieb in Aleppo zu verkaufen. Als er sie abbauen wollte, kamen diese Männer. Sie haben ihre Waffen gezogen: Entweder gibt er ihnen die Hälfte der Einnahmen, oder die Maschinen bleiben in der Plastiktütenfabrik.
Sie haben sich als Kämpfer der Freien Syrischen Armee, der FSA, ausgegeben. Vielleicht stimmte das, was sie behaupteten. Seit einiger Zeit mehren sich Berichte, dass Aufständische ihre ungewohnte Macht missbrauchen und zu neuen Peinigern werden. Gut möglich ist aber auch, dass es einfache Kriminelle waren, Trittbrettfahrer des Krieges, die vom Chaos profitieren wollen.
Diebstahl, Raub und Entführungen nahmen in Aleppo zu, lange bevor die Aufständischen in die Stadt vorgerückt sind. Im Kampf um ihr Überleben fehlten der Regierung immer stärker die Kapazitäten, sich auch noch um Alltagskriminalität zu kümmern. Seitdem die Kämpfer hier sind, ist es schlimmer geworden, klagen viele Einwohner. Die Rebellen hatten nie den vollen Rückhalt der Aleppiner Bevölkerung. Jetzt strengen sie sich an, die Menschen auf ihre Seite zu ziehen: Zwischen Luftangriffen und Straßenschlachten versuchen sie, die Sicherheit im Kriegsalltag wiederherzustellen.
Die Kämpfe in Syrien haben nach Zählung der Organisation Syrischer Menschenrechtsbeobachter bereits mehr als 40.000 Menschen das Leben gekostet. Unter den Toten seien 28.026 Zivilisten, 10.150 Soldaten und 1379 Deserteure, sagte der Leiter der Organisation, Rami Abdurrahman, am Donnerstag. Mehr als 500 Todesopfer hätten nicht identifiziert werden können.
Die syrische Armee versuchte unterdessen einen neuen Ansturm der Rebellen auf die Hauptstadt Damaskus abzuwehren. Die staatliche Nachrichtenagentur Sana meldete am Donnerstag, in dem Vorort Sajjida Seinab hätten die Regierungstruppen „Dutzende von Terroristen“ festgenommen. Die Organisation Syrischer Menschenrechtsbeobachter berichtete von Gefechten im Al-Kabun-Viertel und von einem Mörserangriff an der Schnellstraße in Al-Messe.
In einem verlassenen Apartmenthaus haben die Aufständischen eine Polizeistation eröffnet. „Revolutionäre Sicherheitskräfte“ nennen sie sich. Männer und Frauen stehen Schlange; sie diskutieren, klagen, hoffen auf lange verwehrte Gerechtigkeit. Ein Junge mit einer Kalaschnikow schlängelt sich durch die Reihen in ein Büro. „Beschwerdestelle“ steht an der Tür. In dem verrauchten Raum sitzt Abu Ahmed und will seine Erpresser zur Anzeige bringen.
Hundert Fälle jeden Tag
Früher, als Präsident Baschar al-Assad das Land noch eisern unter Kontrolle hielt, musste man erst Klinken putzen, mit den wichtigen Leuten sprechen, sie von seinem Fall überzeugen und schließlich die Beamten schmieren, ehe eine Anzeige überhaupt angenommen wurde, erzählt er. „Wasta“ ist der arabische Begriff für dieses System aus Beziehungen und persönlichem Einfluss.
Jetzt könne man einfach in dieses Büro kommen und die Straftat melden. „Ich fühle mich, als wäre eine neue Ära angebrochen“, sagt Abu Ahmed. Mahmud Abrar, früher Assistenzchirurg, heute Rebellenpolizist, nimmt die Anzeige entgegen. Hundert Fälle bekomme er jeden Tag, sagt er, meist Diebstähle. „Beschwerden gegen die Freie Syrische Armee gilt mein Hauptinteresse.“ Und davon gebe es einige. Häufig seien die Täter gewöhnliche Verbrecher, die aber als Mitglieder der FSA auftreten, sagt Abrar.
Das macht es den Rebellen schwerer, diesen Krieg zu gewinnen, bei dem es nicht nur auf militärische Erfolge ankommt. „Wir brauchen die Menschen auf unsere Seite, nicht wütend auf uns.“
In Aleppo haben die Aufständischen ohnehin ein Imageproblem. Die meisten der Kämpfer kommen vom Land, sind sunnitisch, konservativ, verarmt. Aleppo, Syriens zweitgrößte Stadt und wirtschaftliches Zentrum, hatte zu viel zu verlieren, um von sich aus gegen Präsident Baschar al-Assad zu rebellieren. Bis Mitte dieses Jahres blieb die Stadt weitgehend von Gewalt verschont. Jetzt ist sie das Zentrum des Krieges. Viele Bewohner geben den Rebellen dafür die Schuld. Zudem leben hier viele Christen, die sich angesichts der zunehmenden islamischen Radikalisierung der Opposition vor der Zeit nach Assad fürchten.
Nachdem der Fabrikbesitzer Abu Ahmed seinen Fall vorgetragen hat, füllt Rebellenpolizist Abrar ein schlecht kopiertes Formular aus. Es ist die Autorisierung für eine Einheit der Rebellen, die Erpresser zu verfolgen. Abu Ahmed geht mit dem Papier in ein Büro auf der anderen Seite des Gebäudes. An einem Schreibtisch vor einem goldenen Vorhang und zwischen Plastikblumen sitzt ein Mann, der noch die Uniform der alten Machthaber trägt: Zeki Ali Lule, der Chef der Rebellenpolizeistelle.
Er zeichnet das Formular für Abu Ahmed ab. Lule war 35 Jahre lang in der Armee, hat es bis zum Oberst gebracht. Sein Schulterabzeichen – drei Sterne und die schwarzweißrote Flagge der Regierung – stammt noch aus dieser Zeit. Er hat die Seiten gewechselt und die Macht behalten, wie viele in der Opposition. Erst Mitte des Jahres ist er übergelaufen. „Die Revolution kam spät nach Aleppo, aber ich habe mich lange auf diesen Tag vorbereitet“, sagt er. Den spät Desertierten schlägt in den Reihen der Opposition wenig Vertrauen entgegen.
Hoheit in der Luft
Die Aufständischen halten derzeit rund zwei Drittel von Aleppo. Einen Tag gewinnen sie ein paar Straßen, am nächsten Tag verlieren sie sie wieder. Auch die Regierung kann keine entscheidenden Siege erzielen. Nur in der Luft hat sie noch die Hoheit. Täglich beschießt sie die Wohnviertel mit Kampfjets und Helikoptern. Aber auch diese Vormacht scheint zu bröckeln.
Seit Kurzem kursieren Videos, die von den Rebellen abgefeuerte Boden-Luft-Raketen zeigen. In den vergangenen Wochen haben sie mindestens einen Helikopter und ein Flugzeug zerstört. Das könnte den entscheidenden Ausschlag zugunsten der Opposition geben. Ob mit ihrem Sieg in Aleppo Ruhe einkehren wird, hängt allerdings davon ab, wie sie den Übergang vom militärischem Durchbruch hin zu ziviler Sicherheit bewältigen.
Die Polizeistation ist ein erster Schritt zu einem geordneten Neuanfang. „Es gibt viele bewaffnete Gruppen in der Stadt“, sagt Polizeichef Lule. „Das ist gefährlich, weil es das Bild der Freien Syrischen Armee verzerrt.“ Lule versucht, Struktur in die lose organisierten Einheiten der Aufständischen zu bringen. Jedem Checkpoint in der Stadt ist jetzt ein verantwortlicher Kommandeur zugewiesen. Er lässt sie in Polizeiarbeit ausbilden, und gerade werden Uniformen entworfen. Wenn die Rebellen Gefangene zu ihm bringen, überstellt er sie an ein Gericht.
In einem leer stehenden Neubau nahe der Front sind Anwälte, Richter und islamische Gelehrte zusammengekommen, um ein zentrales Gericht aufzubauen. Sie diskutieren, wollen die Prinzipien der provisorischen Rechtsprechung festlegen. Jetzt, in Zeiten des Krieges, gelte die Scharia, sagt Abu Ibrahim, einer der Richter. Religiöses Recht sei einfacher anzuwenden als ziviles. „Nur Verräter werden exekutiert.“ Ist Assad einmal gefallen, sollen Wahlen über die künftigen Grundlagen der Rechtsprechung entscheiden.
Sie wollen das System auf alle Bezirke von Aleppo ausweiten, die in der Hand der Opposition sind. Es sind nicht nur die Straftaten, die hier verhandelt werden. Auch Hochzeiten und Scheidungen sollen hier stattfinden. Das Leben geht weiter, die Bevölkerung braucht eine Autorität, an die sie sich wenden kann. Abu Ibrahim ist besorgt. Er glaubt, dass die FSA die Anwohner verschreckt. „Wir brauchen eine Polizei“, sagt der Richter. „Die Menschen verstehen nicht, dass sich Soldaten um ihre Sicherheit kümmern sollen.“
Folter und Exekutionen
Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Es gibt keine Trennung zwischen Kämpfern und zivilen Sicherheitskräften. Die Polizeistelle ist bisher nicht mehr als ein Mittler zwischen der Bevölkerung und der FSA.
In Abu Ibrahims Gericht gibt es ein paar Zellen für Gefangene, aber die Kämpfer bringen sie nur vereinzelt zu ihm – Anfang des Monats waren es gerade zwei.
Zudem hat die FSA selbst in Stadtteilen, die nicht mehr unter der Kontrolle der Regierung sind, keine uneingeschränkte Autorität. Auch kurdische Gruppen halten manche Viertel und versuchen, sich aus dem Kampf herauszuhalten oder daraus Profit zu schlagen, ohne sich auf eine der beiden Seiten zu stellen.
Außerdem ist „Freie Syrische Armee“ eher ein Sammelbegriff für unterschiedliche Strömungen von bewaffneten Aufständischen als der Name eines strukturierten Verbunds. Allein in Aleppo kämpfen mindestens vier Bataillone, die zwar militärisch kooperieren, aber in zivilen Angelegenheiten keine einheitlichen Ansätze haben. Einzelne Bataillone haben eigene Polizeikräfte und Gerichte, die unabhängig voneinander arbeiten.
Manche legen ihre Gesetze streng nach der Scharia aus; manchen geben sich säkularer. Viele scheren sich wenig um Regeln, foltern Gefangene, fällen Urteile auf der Straße und exekutieren fernab jedes Gerichtsverfahrens.
Es ist nicht nur die eigentliche Schlacht, die ein Land im Krieg ins Chaos zu stürzen droht. Es ist die Gewalt, die sich am Rande der Kämpfe entwickelt; die Kriminalität, die sich ausbreitet, wenn staatliche Strukturen implodieren; wenn es plötzlich keine Polizei mehr gibt, wo die Menschen die Staatsgewalt früher an jeder Ecke fürchten mussten.
Die Bemühungen der Rebellenpolizisten, Richter und Anwälte könnten ein Anzeichen dafür sein, dass Aleppo nach einem Sieg der Opposition den Umbruch bewältigt. Wenn auch nur lokal, ein erster Schritt zu zivilen Strukturen ist getan. Abu Ahmed, der Fabrikbesitzer, ist vom neuen System bereits überzeugt. „Die Freie Armee ist wunderbar“, sagt er. Für ihn gibt es jetzt, inmitten des Krieges, endlich Hoffnung auf Gerechtigkeit.
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