Kafkas Schloss auf der Bühne: Kultur des Nichtwillkommens
Am Hamburger Thalia Theater inszeniert Antú Romero Nunes Kafkas Romanfragment „Das Schloss“ als bedrohliche Groteske und existenzialistisches Körpertheater
Als düstere hyperbolische Groteske über Ab- und Ausgrenzung richtet Antú Romero Nunes Franz Kafkas Romanfragment „Das Schloss“ zunächst auf karger Bühne ein. Die hermetisch abgeschlossene Welt aus Dorf und Schloss, in der Gesetz, Sitte und Leben ununterscheidbar miteinander verstrickt sind, steht dem vergeblich um Aufnahme bittenden vorgeblichen Landvermesser K. als inzestuös-verkommene Gesellschaft aus tumben Dorfdeppen und überzeichneten Machtfigurenkarikaturen gegenüber.
Nicht mal einen Platz auf der Bühne gesteht Nunes dem Ankömmling zu. Die Rolle des Fremden, „der überzählig und überall im Weg ist“, übernimmt erst mal das Publikum. „Gastfreundlichkeit ist bei uns nicht Sitte“, schallt es ihm immer wieder entgegen. Denn: „Die Herren sind unfähig, den Anblick eines Fremden zu ertragen.“ Aktuelle Bezüge braucht es nicht, um den Abend auch als Kommentar zur aktuellen Debatte um Flüchtlinge und (Nicht-)Willkommenskultur zu verstehen.
Ein bizarr komisches und zugleich verstörend erbarmungslos wirkendes Unsittengemälde einer archaisch-monströsen fremdenhassenden Gemeinschaft zeichnen Nunes und sein fantastisch spielfreudiges Ensemble in der ersten Stunde des Abends. Gelächter schlägt immer wieder in Erschrecken und Ekel um, die slapstickhafte Komik des Maßlosen und Absurden in Brutalität. Da werden Sauen kaltherzig erschlagen, Dorfbewohner in Käfige gesperrt, es wird gepisst, onaniert, verprügelt und vergewaltigt, dass man Reißaus nehmen möchte.
Wenn man denn überhaupt hineingelassen würde in diese abstoßende Welt. Denn dem Zuschauer geht es in Nunes’ Inszenierung wie Kafkas Ankömmling selbst: Zurückverwiesen bleibt er auf eine ewige Annäherung. Beständig dreht sich die Bühne, wenn der Fuhrmann oder „das Mädchen aus dem Schloss“ zum Mitkommen einladen: jeder Schritt nur ein trügerischer Fortschritt im rastlosen Sich-im-Kreis-Drehen.
Und jeder Versuch K.s, sich etwa über eine amouröse Beziehung zur Schlossangestellten-Geliebten Frieda der flüchtigen Bürokratie des Schlosses zu nähern, ihre ungeschriebenen Gesetze zu entziffern und ihre mysteriöse Hierarchie zu durchschauen, scheitert und wird mit noch hartnäckigerer Verweigerung bestraft: Je mehr er erfährt, desto ferner rückt das Ziel; je tiefer er sich ins absurde Sinnlabyrinth wagt, desto erbitterter speit es den Eindringling aus. Jeder Versuch, in der Abweisung einen tieferen Sinn zu entdecken, entpuppt sich als Illusion, als naiver Kinderglaube.
Mit einem ungelenken Kindertheater fügt Nunes denn auch noch ein weiteres Deutungsfragment hinzu und bringt das Stück noch einmal als wiederum scheiterndes Spiel im Spiel auf die Bühne: Die debile Dorfschulklasse probt stotternd Kafkas „Schloss“. Aber einer spielt nicht richtig mit, ein anderer wird beschuldigt und vom Dorflehrer erschlagen. Der wahre Schuldige bleibt schließlich, von den anderen aus dem Kostüm geschält und wie ein Gekreuzigter zu Grabe getragen, als Häufchen nacktes Leben regungslos am Boden liegen.
Aber wie es kein Hineinkommen gibt, so gibt es auch kein Entkommen aus diesem brutal-grotesken Kosmos. Helfen kann auch der Deus ex Machina nicht mehr, der als engelhafter Sekretär des Schlosses in weißer Robe vom Theaterhimmel herabschwebt.
Und in einer eigentümlichen Mischung aus christlicher Auferstehung und Kafka’scher Verwandlung webt Nunes schließlich noch eine dritte Deutungsebene ein, lässt den „ewigen Landvermesser“ nun auch auf der Bühne auferstehen und einen letzten vergeblichen Anlauf nehmen.
Aus dem grotesken Schauspielplatz wird so ein beeindruckendes existenzialistisches Körpertheater. Mit einer spektakulär verletzlich wirkenden Körperlichkeit verwandelt sich Mirco Kreibich in der letzten Viertelstunde des knapp zweistündigen Abends in ein insektenartiges Wesen, krabbelt rücklings auf die Wachturm-Gerüstskelette des unerreichbaren Schlosses zu und klettert in einem aufs Plotskelett reduzierten Schnelldurchlauf der nun ebenfalls aller Kostüme entkleideten Dorfbevölkerung hinterher.
Am Ende steht der Fremdling erschöpft, nackt und zitternd allein im erst leise rieselnden, dann im vom Sturm verwehten Schnee. Ein erwartbares, aber eindringliches Sinnbild des Menschen als ewiger Fremder und Flüchtling vor sich selbst und den anderen: vollkommen frei, aber unfähig zu greifen, worin er zugleich auf immer verheddert bleibt.
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