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Kärtchen und starke Bären

An einer Grundschule in Wedding wird derzeit das Deutsch künftiger Erstklässler begutachtet. Erstmals finden die Erhebungen flächendeckend in vier Bezirken statt – mit Hilfe von Zootieren

von SABINE AM ORDE

Die Kleine mit den beiden dunklen Zöpfen fährt sich langsam mit der Zunge über die Oberlippe. Dann grinst sie und greift zielsicher nach zwei der kleinen Kärtchen, die vor ihr auf dem Tisch liegen. „Mama Schlange und Baby Schlange“, sagt sie knapp. Schon hat sie die Karten mit den Elefanten in der Hand. Maren Loeppke, die neben der sechsjährigen Ayse (Name geändert) sitzt, schreibt eifrig mit.

Loeppke ist Sonderpädagogin an der Erika-Mann-Grundschule in Wedding. Gemeinsam mit einer Kollegin führt sie hier derzeit die so genannten Sprachstandserhebungen durch. Die Deutschkenntnisse aller 80 Kinder, die im Sommer als Erstklässler an der theaterbetonten Grundschule in der Utrechter Straße anfangen, werden derzeit von den beiden Lehrerinnen begutachtet. Zwölf Tage sind dafür angesetzt.

Den Begriff Sprachtest mag man hier nicht. „Wir wollen dem Kind ja nichts Böses, wir wollen nur wissen, wo es steht“, sagt Schulleiterin Karin Babbe, die die Untersuchung mit konzipiert hat. „Das ist ein berechtigter Anspruch der Institution.“

Dieser Anspruch wird derzeit erstmals flächendeckend in den vier Innenstadtbezirken umgesetzt, die einen hohen Ausländeranteil haben: in Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg, Tempelhof-Schöneberg und Neukölln. Im kommenden Jahr sollen die Sprachtests in allen Bezirken durchgeführt werden.

Schulsenator Klaus Böger (SPD) verfolgt damit zwei Ziele:„Wir wollen den Förderbedarf für das einzelne Kind feststellen“, sagt Bögers Sprecher Thomas John. „Und wir brauchen eine Berechnungsgrundlage für die Verteilung des Förderunterrichts Deutsch als Zweitsprache an die einzelnen Schulen.“ Karin Babbe hofft, dass mit den Sprachstandserhebungen das Thema verstärkt auch in das Bewusstsein der Eltern rutscht – und auch in das der Lehrer und Lehrerinnen. „Deutsch als Zweitsprache muss Unterrichtsprinzip sein“, sagt die Schulleiterin.

Babbe hat Erfahrung mit den Sprachtests. Ihre Schule war bereits bei den ersten Versuchen 1998 und 1999 dabei, die eine hitzige Debatte auslösten. Denn die Ergebnisse der Tests, die damals an 20 Weddinger Grundschulen durchgeführt wurden, waren alarmierend: Nur ein knappes Viertel der nichtdeutschen Erstklässler beherrschte die deutsche Sprache ausreichend, die Hälfte der Kinder hatte Defizite. Das galt auch für einen kleinen Teil der I-Dötzchen deutscher Herkunft. Und das, obwohl 90 Prozent der Kinder zuvor eine Kita besucht hatten. Experten befürchten ähnlich dramatische Ergebnisse auch jetzt.

Eine knappe halbe Stunde dauert die Untersuchung pro Kind, am Anfang werden die Eltern befragt. Pädagogin Loeppke hat bereits mit Ayses Mutter gesprochen, die draußen vor der Tür auf ihre Tochter wartet. Ayse geht seit vier Jahren in die Kita, ihre Eltern sind beide türkische Staatsbürger, zu Hause spricht die Familie kaum Deutsch. Das hat Loeppke in ihrem Fragebogen festgehalten. Drinnen antwortet Ayse schüchtern, dass sie Kartoffelpüree mit Sauce am liebsten isst und ihre beste Freundin Claudia heißt. Dann darf sie den kleinen Bär aus einer Schachtel holen.

Der Teddy begleitet das Mädchen durch den halbstündigen Test, der deshalb „Bärenstark“ heißt. Mit ihm prüft Loeppke, ob Ayse versteht, was Kopf und was Füße sind, wo rechts ist und wo links, wo hinten und vorne. Dann soll das Mädchen erzählen, was sie auf dem fünfteiligen Puzzle mit Szenen aus dem Schwimmbad sieht. „Die Frau, das Kind“, sagt Ayse, „die spielen.“ Diese Beschreibung hält Sonderpädagogin Loeppke für „karg“. „Das ist richtig beobachtet, aber grammatikalisch ist das nicht richtig ausgeprägt“, sagt sie später. Das gilt auch dafür, wie Ayse die Unterschiede auf den kleinen Kärtchen mit den Zootieren beschreibt. „Wir achten darauf, ob die Kinder ganze und grammatikalisch richtige Sätze bilden“, sagt Loeppke. Ein Problemfall ist Ayse damit aber noch lange nicht.

Das ist nicht bei allen Kindern so. Am Tag zuvor war ein Junge aus Mazedonien bei der Pädogogin, der kein einziges Wort Deutsch sprach, ein anderer Junge war eindeutig lernbehindert. Die Ergebnisse gehen an die Schulpsychologische Beratungsstelle Mitte, die die Untersuchung bis zu den Sommerferien auswertet. Die Informationen bleiben aber auch an der Schule. „Wir reden mit den künftigen Klassenlehrerinnen über die einzelnen Kinder“, sagt Loeppke. „Und wir geben ihnen Ratschläge, worauf sie achten sollen.“ Neben diesen Tipps und den ausgefüllten Fragebögen bekommen die Lehrerinnen auch Material zur Sprachförderung an die Hand, das zu „Bärenstark“ gehört.

Ayse ist fertig, der kleine Bär wieder in seiner Schachtel verstaut. Draußen vor der Tür rät Loeppke der Mutter, sich in dem halben Jahr, das bis zur Einschulung noch bleibt, mit der Tochter viele Bilderbücher anzugucken. „Lassen Sie sich erzählen, was sie sieht“, sagt die Pädagogin. Dann wendet sie sich wieder dem Mädchen zu. „Hat dir das Ganze Spaß gemacht?“, fragt sie. Ayse nickt, nimmt die Hand ihrer Mutter und zieht sie davon.

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