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KZ-Überlebender erinnert sich„Endlich werden wir erschossen“

Im April 1945 befreiten die Briten das KZ Bergen-Belsen. Albrecht Weinberg erinnert sich gut. Wie könne er vergessen, bei allem was ihm angetan wurde.

Blick aus dem Dokumentationszentrum: Hier war einst das KZ Bergen-Belsen Foto: Ole Spata/dpa
Marco Fründt
Interview von Marco Fründt

taz: Herr Weinberg, am Sonntag werden Sie ins Konzentrationslager Bergen-Belsen zurück kehren, 77 Jahre nach der Befreiung. Was erinnern Sie aus Ihrer Gefangenschaft?

Albrecht Weinberg: Das kann man nicht vergessen. Als ich 13 Jahre alt war, musste ich in die Zwangsarbeit, weil ich als Jude keine deutsche Schule mehr besuchen durfte. Und das, obwohl meine Familie Deutsche waren. Sie kämpften im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite. Meinen Vater haben sie, einfach weil er eine andere Religion hatte, lebendig in die Gaskammer gesteckt und ermordet. Auf Fotos von ihm ist zu erkennen, dass auf seinem Uniformgürtel geschrieben stand: „Der Dank des Vaterlands sei euch gewiss.“

Zu welcher Arbeit wurden Sie als Junge gezwungen?

Vier Jahre lang war ich auf Bauernhöfen, im Wald oder habe Kohlen ausgeladen. Nach der Wannseekonferenz ist meine Gruppe über Berlin nach Auschwitz gebracht worden. Verladen wurden wir am Grunewald, wo andere Leute sich vergnügten, schwimmen und Beeren pflücken waren. Was in Auschwitz war, wussten wir damals nicht. Ich war dann zusammen mit meinem Bruder für fast zwei Jahre im KZ Monowitz.

Das ist auch als Auschwitz III bekannt.

Als der Russe näher kam, evakuierten uns die Deutschen, sie wollten ihre Arbeitskräfte nicht verlieren. Man brachte uns nach Bergen-Belsen.

Die Gedenkveranstaltung

Am Sonntag, den 4. September, findet in der Gedenkstätte Bergen-Belsen eine Gedenkzeremonie statt. Geladen sind auch 50 Überlebende aus zehn Ländern, darunter Albrecht Weinberg. Hauptrednerin ist Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne).

Wie war es dort?

Als ich ankam, war ich ein Muselmann. [Anmerkung der Redaktion: KZ-Lagerszpracha für bis auf die Knochen abgemagerte Menschen im letzten Stadium des Hungertodes] Meine Haut war ganz gelb und ich konnte nicht mehr auf meinen Beinen stehen, ich war ein mit Haut überzogenes Skelett. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Rampe gekommen bin, aber man hat mich einfach ins Lager umgekippt. Dann kamen die Engländer.

Wie erinnern Sie sich an den Tag der Befreiung?

Als die Engländer mit einer Panzertruppe einmarschierten, habe ich gedacht: „Endlich werden wir erlöst, jetzt werden wir erschossen“, doch sie haben uns gut behandelt. Bergen-Belsen war ein Friedhof. Da haben Tausende von Häftlingen gelegen, die schon halb verwest waren. Sie wurden dann in einem Massengrab beerdigt.

Wie ging es für Sie weiter?

Bild: Foto: Stiftung nds. Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen
Im Interview: Albrecht Weinberg

97, ist als Zeitzeuge in der Erinnerungsarbeit aktiv. Als 13-Jähriger musste er als Jude die Schule verlassen, leistete Zwangsarbeit und wurde nach Auschwitz und später Bergen-Belsen deportiert.

Wenn wir zu essen bekamen, ein Stück Butter und ein Stück Weißbrot, konnten unsere Körper das gar nicht verdauen. Das ging durch uns durch wie eine Flasche Rizinus. Viele sind noch nach der Befreiung gestorben. Zu Fuß habe ich mich später nach Hannover aufgemacht, um meine Familie zu suchen. Ende 1945 habe ich durch das Rote Kreuz meine Schwester wiedergefunden. Auch mein Bruder war wieder in Leer. Dort haben sie ihn mit den Worten empfangen: „Warum haben sie dich nicht auch ermordet?“ Wir wollten also raus aus Deutschland. Im Januar 1947 sind wir dann von Bremerhaven nach Amerika ausgewandert, da blieb ich für 60 Jahre.

Wie gehen Sie mit Ihren Erinnerungen um?

Ich denke da seit 90 Jahren jeden Tag dran. Ich schlafe nicht, sondern habe mein Radio am Ohr. Wie könnte ich es vergessen, bei allem, was man mir angetan hat – seelisch und körperlich. Ich sehe meine Mutter, meinen Vater, über 40 Menschen wurden ermordet, von den Nazis, von Deutschland, von unseren Nachbarn. Von Menschen, mit denen sie Tee getrunken haben.

Wie fühlt es sich an, nach Bergen-Belsen zurückzukehren?

Ich bin einer der wenigen Zeitzeugen. Deutsche Juden in meinem Alter gibt es ja heute nicht mehr. Die 50 Überlebenden, die am kommenden Wochenende nach Bergen-Belsen kommen, waren damals meist kleine Kinder. Sie sind jetzt siebzig, achtzig Jahre alt. Wie ich mich fühle? Ich gehe auf einem Friedhof, auf einem jüdischen Friedhof. Haben Sie das mit den Kirchen in Bayern mitbekommen, mit der Judensau? Der Antisemitismus ist wieder groß in Deutschland.

Haben Sie schon vor Kriegsbeginn Antisemitismus erlebt?

Ich bin in Ostfriesland aufgewachsen. Als ich sieben oder acht war, bin ich mit Schulkameraden Schlittschuhlaufen gegangen und ins Eis eingebrochen. Sie haben nur am Ufer gestanden und auf Plattdeutsch gesungen: „Sitzt ein Jude im Kanal, sitzt ein Jude im Kanal, wenn er ertrinkt, wir werden ihm nicht helfen.“ Vorher hatten wir noch zusammen gespielt. Der Antisemitismus in Rhauderfehn, wo drei jüdische Familien gewohnt haben, war unglaublich. Wenn etwas in der Welt schief ging, waren die Juden schuld. Die Juden und die Radfahrer, sag ich immer.

Sie sind an viele Schulen gegangen, um von Ihren Erlebnissen zu berichten.

Oh, ja. In Rhauderfehn gibt es eine Schule mit über 1.000 Schülern. Albrecht-Weinberg-Gymnasium heißt die heute. Anfang Oktober fahren wir zusammen mit einigen Schülern und Lehrern sogar nach Israel.

Warum ist Erinnerungsarbeit so wichtig?

Damit so etwas nie wieder passiert. Sehen Sie sich die Welt doch an. Über die Flüchtlinge sagen sie, „die sollen doch bleiben wo sie sind“. Unglaublich.

Machen Ihnen der Rechtsruck und der wachsende Antisemitismus in Europa Sorgen?

Ja, natürlich. Jetzt, wo ich einer der letzten Überlebenden bin, weiß ich gar nicht mehr, wohin ich gehen soll, so viele Interviewanfragen bekomme ich. Wo waren die die ganzen Jahre? Da wurde nicht drüber geredet.

Trotz Ihrer schrecklichen Erlebnisse leben Sie heute wieder in Ostfriesland. Warum?

Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre hat die Stadt Leer versucht, ehemalige jüdische Bürger der Stadt ausfindig zu machen und hat mich und meine Schwester eingeladen. „Ich gehe doch nicht wieder zurück nach Deutschland, nachdem, was sie uns angetan haben“, dachte ich zuerst. In den USA ging es uns gut, wir hatten eine Wohnung, eine Arbeit. Ein paar Monate später erreichte mich ein Foto der ehemaligen jüdischen Schule, auf dem auch Cousins von mir zu sehen waren, die überlebt hatten. Seit fast zehn Jahren bin ich nun wieder hier. Zwei Monate nach unserer Ankunft ist meine Schwester gestorben. Ich bin geblieben.

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