Justizreform in Israel: Ringen um die Rechtsstaatlichkeit
Israels Justizumbau hat das Land in eine Krise gestürzt. Nun entscheiden die obersten Richter, ob sie die Einschränkung ihrer Macht akzeptieren.
Die Aufhebung der Angemessenheitsklausel, die das Parlament Ende Juli per Gesetz beschlossen hat, ist ein Kernelement des umstrittenen Justizumbaus der Regierung. Sie nimmt den Richterinnen und Richtern die Möglichkeit, Entscheidungen und Gesetze als „unangemessen“ und damit für ungültig zu erklären.
Mit der Anhörung am Dienstag werden nun die zahlreichen Petitionen bearbeitet, die gegen das Gesetz eingereicht wurden. Das Hauptargument: Da Israel weder über eine Verfassung noch über eine starke Legislative verfügt, braucht es für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung eine starke Justiz. Wann das Urteil fallen soll, ist offen – und ebenso, ob die Regierung sich daran halten würde.
Das Gericht habe nicht das Recht, sich in die Gesetzgebung einzumischen, beginnt der Knessetabgeordnete Simcha Rothman, einer der Architekten des Justizumbaus, sein Plädoyer. Es sei an der „Öffentlichkeit, zu entscheiden, wie die Regierung geführt wird“. Auf die Frage, was passieren würde, sollte die Regierung die nächsten Wahlen um zehn Jahre verschieben oder allen arabischen Israelis das Wahlrecht entziehen, antwortete er: „Wenn wir Fehler machen, können wir durch Wahlen abgesetzt werden.“
Würde Netanjahu ein Urteil des Gerichts noch akzeptieren?
Lediglich sechs Regierungsmitglieder betonten zuvor, dass Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs respektiert werden müssten. Netanjahu und die meisten seiner Kabinettsmitglieder haben bisher nicht klargestellt, ob sie ein Urteil des Gerichts im Falle einer Ablehnung akzeptieren würden.
Die Argumentation der Richterinnen und Richter kreist an diesem Dienstag immer wieder um die Frage: Wie soll die Justiz künftig ohne Druckmittel sicherstellen, dass die Regierung sich an demokratische Prinzipien hält?
Die Vertreter der Regierung und des Parlaments wechseln zwischen Kampfansagen und Versprechen. Es sei „Sache des Volkes“ und gewählter Vertreter, über die Demokratie zu wachen. Die Richter könnten sich darauf verlassen, dass die Regierung ihnen zuhöre. Richter Isaak Amit entgegnet: „Demokratien sterben nicht von wenigen großen Schlägen, sie sterben in vielen kleinen Schritten.“
Der Justizumbau hat das Land bereits jetzt in eine der größten Krisen seiner Geschichte gestürzt. Die Fronten sind verhärtet. Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, eine der prominentesten Gegnerinnen der Reform, hatte sich im Vorfeld geweigert, die Position der Regierung vor Gericht mitzutragen. Diese muss sich nun stattdessen durch einen privaten Anwalt vertreten lassen.
Zehntausende demonstrieren, der Schekel schwächelt
Am Vorabend demonstrierten Zehntausende Gegner der Reform vor dem Gerichtsgebäude in Jerusalem. Seit rund neun Monaten gehen Woche für Woche Hunderttausende landesweit auf die Straße, um gegen die Pläne der Regierung zu protestieren. Außerdem kündigten in den letzten Monaten Tausende Reservisten der Armee an, nicht mehr zum Dienst zu erscheinen, sollte die Reform durchgesetzt werden. Der Kurs der israelischen Währung Schekel schwächelt seit Monaten und Oppositionsführer Jair Lapid warnte, die Reform gefährde die Sicherheit des Landes.
Israel steht ein turbulenter Herbst bevor. Mitte Oktober kehrt das Parlament aus der sitzungsfreien Zeit zurück. Die Regierung könnte dann versuchen, auch die übrigen Teile der geplanten Justizreform voranzutreiben. Zudem liegen dem Gericht zwei weitere kontroverse Petitionen vor: gegen ein Gesetz von Ende März dieses Jahres, das es massiv erschwert, einen amtierenden Ministerpräsidenten aus seinem Amt zu entfernen, sowie zu einem Streit über die Besetzung zahlreicher Richterposten, die Justizminister Jariv Levin seit Langem hinauszögert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israel und Hisbollah
Waffenruhe tritt in Kraft