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Justiz in RusslandDie Verteidiger

Eine Gruppe russischer Anwälte trifft sich in europäischen Städten. Sie diskutieren, wie sie sich gegen Misshandlung und Rechtsbruch verteidigen.

In einem russischen Gerichtsraum Foto: Sergei Karpukhin/reuters

In der Nacht auf den 13. September teilten russische Anwälte ein Video auf Facebook. Darauf ist ein Mann in einem weißen Hemd zu sehen, Gerichtsdiener ziehen ihn durch einen Flur, danach fesseln und schlagen sie ihn.

Der Rechtsanwalt Dmitri Sotnikow kam am 12. September aus Moskau nach Nowomoskowsk, über 200 km südlich von Moskau. Er wollte einen wegen Drogenhandel angeklagten Mann vor Gericht verteidigen. Der Anwalt kam wenige Minuten zu spät. Trotz seiner Anwaltszulassung und der Vereinbarung mit dem Angeklagten erlaubte die Richterin nicht, dem Hauptzeugen Fragen zu stellen, und forderte ihn auf, das Gebäude zu verlassen.

Noch im Gerichtssaal drehen Augenzeugen ein Video von Sotnikow. Er sagt darin, die Entscheidung der Richterin widerspreche dem Gesetz und dass er das Gerichtsgebäude nicht freiwillig verlassen werde. Nach einer kurzen Vertagung betreten alle den Gerichtssaal. Nur Sotnikow darf nicht hinein. Bei seinem Versuch, die Gerichtsdiener zu passieren, reißen sie ihn zu Boden und würgen ihn. Sotnikow wurde für mehrere Stunden gefesselt eingesperrt. Der Gerichtsprozess lief währenddessen weiter.

In der letzten Septemberwoche haben sich am Ceeli Institute in Prag über fünfzig russische Anwälte getroffen. Ihr Ziel war unter anderem zu besprechen, wie man sich vor rechtswidrigen Verweisungen aus dem Gerichtssaal schützen kann. Ceeli Institute ist eine unabhängige nichtstaatliche Organisation, die sich für die Rechtsstaatlichkeit in verschiedenen Ländern einsetzt. Die Anwälte gehören zum Prager Club, der die Unabhängigkeit der russischen Anwaltschaft stärken will. Er wurde in Prag gegründet, organisiert aber auch Veranstaltungen in russischen Städten wie Woronesch, Ischewsk und Krasnodar.

Auch in Berlin hat sich der Prager Club schon getroffen, gerade erst wieder im August. Die Anwälte haben Erfahrungen darüber ausgetauscht, wie es in Ländern, die früher zur Sowjetunion gehört haben, um die Rechte der Anwälte bestellt ist und wie sie dort mit Rechtsverletzungen umgehen.

Mitglieder des Prager Clubs mit den Fotos misshandelter Anwältinnen und Anwälte Foto: Alina Ryazanova
Verteidiger werden verhört, durchsucht, geschubst, getreten, gefesselt, gewürgt, geschlagen

Alexandr Popkov, Menschenrechtler

Der Fall Sotnikow ist nicht der einzige Fall, in dem Anwälte in Russland unterdrückt werden. Rechtsverletzungen sind für russische Anwälte in den letzten Jahren zum Alltag geworden. Der Bericht „Angegriffene Anwaltschaft: Gewalt, Belästigung und interne Konflikte“ der internationalen Menschenrechtsgruppe Agora beschreibt 50 der bekanntesten Fälle. „Verteidiger werden verhört, durchsucht, geschubst, getreten, gefesselt, gewürgt, geschlagen und manchmal beschuldigt, Gerichtsdiener angegriffen zu haben“, schreibt der Autor, Alexandr Popkow. Er stellt unter anderem fest, dass im vergangenen Jahr Angriffe auf das Anwaltsgeheimnis zugenommen haben. Außerdem wurden Anwälte von Fällen abgezogen, zur Vernehmung geladen, ihre Wohn- und Geschäftsräume wurden illegal durchsucht wurden.

Das Ceeli Institute ist in einer alten Villa untergebracht, sie liegt von einem Weingarten und Bäumen umgeben in einem ruhigen Park. In einem der großen Vortragssäle der Neorenaissance-Villa treffen sich russische Anwälte. Während draußen Touristen spazieren, werden hier an drei Tischreihen ein ganzes Wochenende Anwaltsrechte, Honorare und Risiken für Anwälte besprochen. Es gibt bis zu drei Redner bei jedem Thema: einen Redner, einen Moderator und einen Gegenredner. Jeder Anwalt hat die Möglichkeit mitzudiskutieren.

Der Anwalt mit dem Gebetskranz

Der Moskauer Anwalt Alexandr Pichowkin trägt eine rechteckige Brille und einen kurzen Bart. Nach einer Diskussion bleibt er in dem Vortragssaal an seinem Tisch, um noch mit KollegInnen zu sprechen. Pichowkin spielt mit den schwarzen Perlen seines Gebetskranzes. Er nimmt ihn manchmal mit ins Gericht, und wenn die Atmosphäre angespannt wird, zählt er ein paar runter, kurz bevor er sein Plädoyer hält. Als am 12. September Dmitri Sotnikow angegriffen wurde, war er mit einer Anwältin, die zur Hilfe kam, per Internet im Kontakt und postete auf seiner Facebook-Seite immer wieder neue Informationen über den Stand der Situation: „Unsere Aufgabe war es, Dmitri vor allem vor körperlicher Gewalt zu schützen.“

Vor ein paar Jahren erlebte Pichowkin einen ähnlichen Vorfall. Aber die lokale Anwaltskammer reagierte darauf nicht. In der folgenden Zeit wurde ihm klar, dass er nicht der Einzige war, der keine Hilfe von der Körperschaft bekam.

Pichowkin trat daraufhin selbst in Moskau in eine Kommission beim Rat der Anwaltskammer ein, die sich für den Schutz der Anwaltsrechte einsetzt. In den letzten Jahren war er regelmäßig dabei, wenn die Polizei Kollegen durchsuchte.

Alexander Pichowkin war auch einer der fünfzehn Anwälte, die den Anwalt Michail Benjasch vor Gericht verteidigten. Benjasch wurde von der Polizei in Krasnodar vor einem Jahr brutal festgenommen.

Später behaupteten die Behörden, er habe Polizisten gebissen und sich selbst im Polizeiauto verletzt. Daraufhin haben 370 Anwälte aus 51 Regionen eine Anrufung an die Föderale Anwaltskammer FPA unterschrieben, über 50 Anwälte legten Berufung gegen mit der Causa zusammenhängende Gerichtsentscheidungen ein. Das macht den Fall in Russland einzigartig.

„Die Selbstverwaltungsorgane der Anwaltskammern fangen an, den Rechtsverletzungen Beachtung zu schenken“, sagt Pichowkin, trotzdem sei es nicht genug und “die Anwälte bleiben machtlos“. In letzter Zeit beobachtet er einen positiven Trend, dass die aktive Anwaltsgemeinschaft sich zusammenschließt. „Die Anwälte beginnen zu erkennen, dass wenn die Rechte eines Anwalts verletzt werden, die Rechte aller Anwälte verletzt werden“, sagt Pichowkin.

Es gibt so viele Opfer, es reicht für alle

Nach einer Diskussion wie Anwaltsrechte gesetzlich besser geschützt werden können, ergreift Pichowkin das Wort. Er steht auf und stellt sich vor das Plenum. „Unter uns sind heute viele Kollegen, mit denen ich die Rechte von Berufsgenossen zusammen verteidige. Sie haben unter den Ämtern gelitten“, sagt er und holt mehrere Din-A4-Blätter mit Fotos darauf aus seiner Tasche.

„Das ist Dagir Chasawow, der sich wegen seiner Arbeit derzeit in Untersuchungshaft befindet. Pichowkin zeigt ein Schwarz-Weiß-Foto und sagt: „Das ist Andrej Zlomnow – er wird wegen Beleidigung eines Ermittlers verfolgt, der sich erst drei Monate später daran erinnert hat. Lydia Holodowitsch wurden Handschellen angelegt und sie wurde auf den Boden gedrückt. Und nun wird ihr die Androhung von Gewalt vorgeworfen. Dmitri Sotnikow wurde wie ein Kartoffelsack durch das Gerichtsgebäude geschleift.“ Mehrere Anwälte erheben sich von ihren Plätzen, Pichowkin gibt ihnen die ausgedruckten Porträts, sie stellen sich nebeneinander auf.

Anwältin Karinna Moskalenko steht neben Pichowkin und ermutigt die anderen, sich der Aktion anzuschließen: „Kollegen, leider gibt es viele Opfer. Die Porträts reichen für alle.“

Kurz darauf stehen fast alle Teilnehmer der Konferenz auf dem Podium und halten die Porträts von 12 Anwälten, um ihre Solidarität zu bekunden. „Freiheit für Dagir Chasawow“, „Freiheit für Andrei Zlomnow“ – sie nennen jedes Opfer beim Namen.

Ein paar Kollegen fotografieren die Aktion. Später veröffentlicht Pichowkin diese Fotos auf Facebook mit Informationen über Fällen der 12 Anwälte. Die Verletzung der Anwaltsrechte sei nicht abstrakt, sagt Pichowkin, es gebe Täter und Opfer. Man sollte sie kennen.

Aber wie können die russischen Anwälte, wie kann der Prager Club auf solche Verletzungen reagieren? Zum Beispiel mit einem Gesetzesvorschlag. Eine Arbeitsgruppe des Prager Clubs hat einen erarbeitet. Die Anwälte der Gruppe wollen, dass es strafbar wird, die berufliche Tätigkeit der Anwälte illegal einzuschränken. Ein Teil der Initiative stößt auf Kritik, da es Regeln bereits gebe. Ein Anwalt sagt, die Strafprozessordnung sei „durch Gesetzeshüter verdorben, die sie einfach ignorieren“.

Karinna Moskalenko hat volle lockige Haare und eine tiefe Stimme. Sie sagt, ein Gesetzvorschlag allein werde nicht weiterhelfen. Sie habe einen besseren Plan. Sie will sich an den Europarat wenden. Während sie langsam redet, herrscht Stille im Vortragssaal. Moskalenko ist für ihre Erfolge vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bekannt. Dort vertritt sie seit 15 Jahren die Rechte von Russen.

Der Europäische Gerichtshof hat mehrfach geurteilt, dass die Rechte von Anwälten in Russland verletzt wurden. Eine neue Arbeitsgruppe, die sich in einer Pause an einem Stehtisch um Karinna Moskalenko sammelt, wird diese Entscheidungen zusammenfassen und mit aktuellen Fällen der Rechtsverletzungen ergänzen.

Dieses Dokument, ein sogennantes Memorandum, reicht Moskalenko beim Ministerkomitee des Europarates ein. Das Ziel ist, den russischen Staat dazu zu bringen, auf diese und neue Fälle zu reagieren. „Die russischen Behörden müssen zeigen, wie sie die Rechts- und die Strafverfolgungspraktiken geändert haben, damit sich solche Verstöße nicht wiederholen“, sagt Moskalenko.

Mit Gehirnerschütterung vor Gericht

Wie man gegen die Verweisung aus dem Gerichtssaal vorgehen kann, ist Gegenstand einer gesonderten Sitzung in Prag. Die Teilnehmer diskutierten verschiedene Empfehlungen: sich äußerst korrekt verhalten, in besonders angespannten Fällen um eine Pause zu bitten und versuchen, die Sitzung zu verschieben.

Die Anwälte reden auch noch einmal über den Fall des durch das Gericht geschleiften Dmitri Sotnikow. Sie sind sich nicht einig, wie sie den Fall beurteilen sollen. Eine Anwältin sagt, der Anwalt habe das Geschehene selbst provoziert, als er sagte, er werde den Gerichtssaal nicht freiwillig verlassen. “Er hätte eine Beschwerde schreiben können.“ Sie glaubt, der Vorfall diene jetzt als schlechtes Vorbild für andere Richter.

„Ich würde Sotnikow nicht vorwerfen, dass er durch die Flure geschleppt wurde“, sagte dazu Karinna Moskalenko. Auch die Föderale Anwaltskammer in Moskau hat Sotnikows Verhalten für gerechtfertigt erklärt.

Dmitri Sotnikow war nicht mit in Prag, aber er sagt am Telefon, er hätte laut dem Anwaltsgesetz den Raum nicht verlassen dürfen. Die Richterin weigerte sich, ihn offiziell zu entfernen oder die Anhörung zu verschieben. „Wenn die Entfernung nicht im Protokoll eingetragen wird, wird die Kammer dies als Weigerung betrachten, Rechtshilfe zu leisten.“

Nachdem er wegen einer Gehirnerschütterung krank geschrieben wurde, ist Dmitri Sotnikow vor einigen Tagen wieder nach Nowomoskowsk gefahren, nun aber von Kollegen begleitet. Einen Befangenheitsantrag hat die Richterin abgelehnt. Für sie war der Anwalt Sotnikow am 12. September gar nicht anwesend. Deswegen gebe es auch keinen Interessenkonflikt.

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