Junge Menschen in der Coronakrise: „Die Kinder nicht ewig einsperren“
In der Debatte über Grundrechte kommen Kinder und Jugendliche kaum vor. Psychologin Alexandra Langmeyer sagt, wie Jüngere die Coronakrise erleben.
taz: Frau Langmeyer, im ersten Lockdown hat jedes vierte Kind unter Einsamkeit gelitten, wie Sie in einer Studie ermittelt haben. Wie ist die Situation heute?
Alexandra Langmeyer: Leider nicht besser. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben zu Beginn der Pandemie gedacht, dass sich die Kinder gut an die Veränderungen anpassen würden. Das ist nicht eingetreten, wie zum Beispiel die Copsy-Studie oder auch internationale Studien zeigen.
Zwar sind heute die Kontaktbeschränkungen nicht mehr so strikt wie vor einem Jahr, und Kinder dürfen auch wieder auf Spielplätze. Dennoch sehen wir sogar einen verstärkten Anstieg bei Verhaltensproblemen seitens der Kinder. Das hat mich, ehrlich gesagt, überrascht, dass sich das eingeschränkte soziale Leben so stark auf die Psyche der Kinder auswirkt. Das Thema Einsamkeit ist wie vor einem Jahr ein großes Problem.
ist promovierte Psychologin. Seit 2013 leitet sie die Fachgruppe „Lebenslagen und Lebenswelten von Kindern“ am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München.
Die Bundesnotbremse, die seit Samstag gilt, macht es nicht unbedingt besser, oder? Kitas und Schulen müssen bei der Inzidenz 165 schließen, Sport dürfen Kinder und Jugendliche nur mehr eingeschränkt machen.
Ich würde es so formulieren: Es war vorher schon schlimm – und die Bundesnotbremse hat die Situation nicht grundlegend geändert. Vielerorts sind Schülerinnen und Schüler jetzt wieder im Distanzunterricht. Schule als Ort der sozialen Begegnung findet damit nicht statt. Beim Sport ist es ähnlich. Ich begrüße aber, dass in der Bundesnotbremse Sport für Kinder bis 14 Jahren erlaubt ist.
Sportverbände schlagen dennoch Alarm, dass sich die Kinder seit einem Jahr zu wenig bewegen. Zu Recht?
Ich halte die fehlende Bewegung der Kinder für sehr bedenklich. Nicht nur, weil man beim Sport auch Freunde trifft und dies aus sozialen Gründen wichtig wäre. Sport schützt Kinder auch vor psychischen Belastungen wie depressiven Verstimmungen, Ängstlichkeit oder eben Einsamkeit. Auch deshalb ist es für Kinder superwichtig, sich zu bewegen.
Das ist aber in dem vergangenen Jahr weitgehend weggefallen. Die Kinder hocken mehr zu Hause rum. Der Weg zur Schule fällt weg, Sportunterricht sowieso und großteils auch der Vereinssport. Mehrere Studien belegen, dass Kinder an Gewicht zugelegt haben im vergangenen Jahr. Deshalb wäre es wichtig, Kinder jetzt im Sommer viel zum Sport draußen zu bewegen.
Nicht alle gesellschaftlichen Gruppen sind in der Pandemie gleich sichtbar. Manche haben wie soeben die Künstler:innen medienwirksam auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen können. Haben wir Kinder und Jugendliche aus dem Blick verloren?
Zu Beginn der Pandemie waren sie ganz aus dem Blick. Das war auch der Grund, warum wir die Studie „Kind sein in Zeiten von Corona“ durchgeführt haben. Alle haben auf die Unternehmen geguckt und auf das Infektionsgeschehen. Wie es den Kindern geht, war da erst mal kein Thema.
Das hat sich während des zweiten Lockdowns geändert, auch weil die Familien lauter geworden sind und sich auch die Familienministerin für die Belange der Familien und Kinder eingesetzt hat. Momentan ist es wieder ruhiger geworden um Kinder und ihre Bedürfnisse. Vielleicht, weil Eltern mit den Nerven und ihrer Energie am Ende sind – übrigens selbst die aus besser gestellten Verhältnissen, die im ersten Lockdown noch ganz positiv eingestellt waren.
Momentan dreht sich die Debatte sehr stark um die Wiedererlangung individueller Freiheitsrechte. Auf dem Impfgipfel am Montag wurde in Aussicht gestellt, vollständig Geimpften ihre Grundrechte zurückzugeben. Für Kinder und Jugendliche ist das jedoch in weiter Ferne.
Kinderrechte kommen in den aktuellen Debatten kaum vor. Eigentlich schreibt uns die UN-Charta vor, Kinderrechte bevorzugt in den Blick zu nehmen. Übrigens auch für den Fall, dass wir die Kinderrechte immer noch nicht im Grundgesetz verankert haben. Dass die Pandemie auch nach dem Sommer für Kitas und Schulen noch lange nicht vorbei ist, weil Kinder nach jetzigem Stand nicht geimpft werden können, ist aber nirgendwo Thema. Von bevorzugter Behandlung von Kindern kann also nicht die Rede sein.
Die Pharmaunternehmen arbeiten nach eigenen Angaben mit Hochdruck an einem Impfstoff für Kinder. Wie lässt sich, bis er verfügbar ist, das Dilemma zwischen Gesundheitsschutz und pädagogisch sinnvollen Kita- und Schulöffnungen auflösen?
Das finde ich eine schwierige Entscheidung. Grundsätzlich ist es natürlich richtig, auf die Virologinnen und Virologen zu hören. Andererseits können wir jetzt nicht bis zum Jahresende die Kinder einsperren, bis ein Impfstoff für sie da ist.
Das heißt was? Den Infektionsschutz hintanstellen?
Ganz hintanstellen natürlich nicht. Aber man muss das gesundheitliche Risiko der Kinder abwägen mit dem sozialen Risiko und den psychischen Folgen der Betroffenen. Soweit ich das einschätzen kann, verlaufen Infektionen bei Kindern, die keine Vorerkrankungen haben, in der Regel ja nicht so dramatisch. Spätestens wenn wir nach den Großeltern auch die Eltern durchgeimpft haben, sollte man neu überdenken, ob wir die Kinder nicht wieder in Kitas und Schulen schicken können.
Angenommen, im Winter ist die Coronapandemie beherrschbar geworden. Ist dann für Kinder und Jugendliche wieder alles gut?
Wir dürfen die Kinder nicht erneut vergessen, wenn die Pandemie vorbei ist. Ich habe die große Sorge, dass in den Schulen dann der Wunsch herrscht, alles nachzuholen, und dadurch ein enormer Leistungsdruck entsteht.
Wir wissen aus dem ersten Lockdown, dass Eltern gestresst und nicht entspannt waren und sich das natürlich auch auf die Kinder auswirkt. Da müssen wir vermeiden, dass die Familien aus dem Dauerstress nicht mehr rauskommen. Beispielsweise über individuelle Förderung, wie sie der Bund angekündigt hat.
Was wissen wir eigentlich über häusliche Gewalt gegen Kinder in der Pandemie?
Dazu gibt es leider keine soliden Daten. Normalerweise sind es ja die Schulen, die Meldungen an die Jugendämter machen. Das ist wegen der Pandemie im vergangenen Jahr natürlich weniger passiert. Man muss leider aber davon ausgehen, dass die Stresssituation zu Hause auch hier zu einer hohen Dunkelziffer geführt hat.
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