Jugendheim in Brandenburg: In der pädagogischen Einöde
Erinnerung an DDR-Werkhöfe: Erneut gibt es Hinweise auf ein Heim, in dem Kinder und Jugendliche offenar nach überholten Methoden gedrillt werden.
Untergebracht sind in Storkow-Wolfswinkel seit 2007 männliche Jugendliche im Alter von 12 bis 18 Jahren für einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren. Bis zu neun Jungen nimmt das Heim auf. Laut seiner Website richtet sich das Projekt an „Trebegänger“ – ein antiquiertes Wort für jugendliche Ausreißer –, die durch „sozial- und (fremd-)selbstschädigendes Verhalten“ auffielen und „Regeln und Grenzen von Gemeinschaften“ verweigerten. In Wolfswinkel sollen sie „resozialisiert“ werden.
Auf das Heim in Storkow machte uns ein Leser aufmerksam, der eine Bildungsmaßnahme in der Einrichtung durchgeführt und mit den Jugendlichen dort Kontakt hatte. Dabei seien ihm die isolierte Lage und der rüde Umgangston negativ aufgefallen. Zwei Jugendliche hätten ihm gesagt, dass sie aus der Einrichtung herauswollten. Er habe sich daraufhin seit April 2018 immer wieder beim Jugendamt und bei der Heimaufsicht beschwert.
Die in einem der taz vorliegenden Konzept der Einrichtung aus dem Jahr 2018 beschriebenen Methoden erinnern an amerikanische Boot Camps. Sport und körperliche Ertüchtigung seien ein Grundpfeiler, „um Korrektur delinquenten Verhaltens zu erreichen“, heißt es darin. Dazu zähle Kampfsport, der sich „zur Steigerung der Willensqualitäten, der Disziplin und Moral“ eigne und den Jugendlichen die unter anderem die „Erduldung von Schmerzen“ beibringen soll. Weitere Ziele sind das „Verkraften von Niederlagen“ und das „Akzeptieren von Leistungsstärkeren“: „Der Jugendliche lernt unter Belastungsschmerzen, an die Grenze seiner Physis und Psyche [Fehler im Original], kontrolliert weiter sein Training bzw. seinen Wettkampf erfolgreich zu beenden. Dabei kann es am Anfang zu unkontrollierten Wutausbrüchen kommen.“
Holger Ziegler, Prof für Soziale Arbeit
Beschrieben wird auch eine streng reglementierte Aufnahmephase. Für die erste Woche heißt es da: „Der neu im Projekt angekommene Junge muss sich vollständig auf das Leben in der Gemeinschaft einlassen. Er verfügt in dieser Zeit nur über geringes privates Eigentum und einfache Bekleidung, sein Wohnumfeld ist auf das Nötigste beschränkt, ungelenkte und spontan selbst gestaltete freie Zeit steht nahezu nicht zur Verfügung.“
Laut Konzept stellt das Leben in der Gruppe ein „strenges und disziplinierendes System zur Stützung sozial erwünschter Verhaltensweisen dar“. Beschrieben sind Sanktionen und eingeschränkter Ausgang, Handys sind verboten, nach draußen telefoniert werden darf nur sonntags – all das werde in einem Vertrag festgehalten, bei dem die Jugendlichen auch unterschreiben müssen, dass sie „Sanktionen der Gemeinschaft akzeptieren“.
Aufmerken lässt auch dieser Satz: „Bei Regelverletzungen gilt: einer für alle – alle für einen. Regel- und Normverletzungen werden in und durch die Gemeinschaft sportlich ausgetragen.“ Das erinnert an Kollektivstrafen, wie sie von strengen Boot Camps bekannt und selbst bei der Bundeswehr verboten sind. Als „Regel“ gilt: „Alle Tageszeiten und -aktivitäten werden eingehalten.“ Die sind eng getaktet: Der Tag beginnt um 6.15 Uhr mit „Wecken“, 6.20 Uhr „Frühsport/Waldlauf“, 7 Uhr „Duschen/Zimmerordnung“, erst nach dem Putzen gibt es um 7.45 Uhr „Gemeinsames Frühstück“.
Wie Regelbrüche „sportlich“ von der Gruppe ausgetragen werden sollen, führt das Konzept nicht aus. Forschungsberichte zu Boot-Camp-Pädagogik beschreiben Pflichtsportübungen, bei denen das Nichteinhalten einer Tageszeit mit 30 Liegestützen geahndet wird. Als 2015 die Friesenhof-Mädchenheime in Schleswig-Holstein geschlossen wurden, berichtete eine frühere Bewohnerin der taz von Strafsport. Wenn ein Kind sich unangepasst verhielt, hätten auch die anderen Sport machen müssen, sogar nachts. Das erzeugt sozialen Druck für den Einzelnen.
Haasenburg Sechs Jahre ist es her, dass aufgrund von Recherchen der taz drei Heimen des privaten Betreibers Haasenburg GmbH die Betriebserlaubnis entzogen wurde, weil die dortigen Methoden nicht mit dem Kindeswohl vereinbar waren. Der Heimalltag sei von „überzogenen, schematischen und drangsalierenden Erziehungsmethoden geprägt gewesen“, sagte die damalige Jugendministerin Martina Münch (SPD) nach Lektüre eines Untersuchungsberichts und entzog die Betriebserlaubnis. Geschlossene Heime sollten heute in Brandenburg der Vergangenheit angehören, wie kürzlich die bis zur Regierungsbildung noch amtierende Ministerin Britta Ernst (SPD) betonte.
Ethik Der Deutsche Ethikrat hat sich 2018 eindeutig zu intensivpädagogischen Konzepten geäußert: „Intensivpädagogische Konzepte sind nicht zu rechtfertigen, weil sie aufseiten des Kindes beziehungsweise des Jugendlichen zu Ohnmachtserfahrungen und zu äußerer Anpassung aus Resignation führen, sodass die eigentlich verfolgten wohltätigen Absichten konterkariert werden.“ (gjo, kaj)
Der taz liegen zwei Versionen des Konzepts vom „Projekt Wolfswinkel“ vor, die sich ähneln. Eine ist auf den August 2008 datiert, eine andere neuere Fassung ist ohne Datum, war aber bis in den September 2018 hinein auf der Website der Einrichtung herunterzuladen. Die ältere Fassung hat 12, die jüngere 15 Seiten. Die Konzepte dürften also mindestens zehn Jahre lang gültig gewesen sein.
Das ist auch für Berlin nicht uninteressant: Am Stichtag 31. Dezember 2018 befanden sich über 1.200 Berliner Jugendliche in Brandenburger Einrichtungen, wie die Senatsverwaltung für Bildung von Sandra Scheeres (SPD) mitteilt. Ob Berliner Heimkinder auch in Wolfswinkel landeten, wird laut Senatsverwaltung nicht zentral erfasst.
Holger Ziegler, Professor für Soziale Arbeit an der Uni Bielefeld, beurteilt das Konzept des Projektes Wolfswinkel als „nicht nur irgendwie problematisch, sondern schlechterdings widerwärtig“. Die Methoden seien entwürdigend, ent-autonomisierend und körperverletzend. Die beschriebenen Methoden ähnelten überwunden geglaubten Erziehungskonzepten und trügen in der Eingangsphase Züge von Initiationsriten von Sekten: „Wenn mir jemand gesagt hätte, dass dies aus einer Konzeption eines Jugendwerkhofes der DDR sei, hätte ich das – bis auf den fehlenden Verweis auf eine sozialistische Persönlichkeit – geglaubt.“
Es sei desaströs, dass dergleichen in der Kinder- und Jugendhilfe offenbar nachgefragt werde. Ziegler geht von einer Kindeswohlgefährdung in der Einrichtung aus. „Ich habe erhebliche Zweifel an der Funktionsfähigkeit der zuständigen Behörden. Das Konzept ist ethisch und fachlich unverantwortlich. Das ist kein Fall für eine fachliche Debatte, sondern den Staatsanwalt.“ Eine Betriebserlaubnis auf Grundlage dieser Konzeption sei eine grobe Aufsichtspflichtverletzung: „Es handelt sich um ein eindeutiges Disziplinprogramm, das ‚Boot Camps‘ kopiert und bisweilen in der Tradition schwarzer Pädagogik noch überbietet.“
Zwei weitere Expert*innen, denen wir das Konzept gezeigt haben, sind ebenso geschockt. Tilman Lutz, Professor für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Hamburg, sagt: „Das Konzept atmet den Geist von Dressur, Depersonalisierung und Entwürdigung – entsprechend der Logik totaler Institutionen.“ Die jungen Menschen würden „als zuzurichtende defizitäre Erziehungsobjekte präpariert“, ihr Verhalten solle mit repressiven Mitteln korrigiert werden – „das fördert nur kurzfristige Anpassung innerhalb dieses Settings.“
Besonders bedrückend spiegele sich das Menschenbild der Einrichtung in dem Satz wider, dass die Jugendlichen „sich selbst als Verursacher fremd- und leidindizierter alltäglicher Lebenszustände“ erleben sollen. Es fehle die konstruktive Auseinandersetzung mit spezifischen Konflikten und Problemlagen der Lebensumstände der jungen Menschen. Denn obwohl im Konzept auch davon die Rede sei, die Jugendlichen so anzunehmen, wie sie sind, bleibe unklar, wie das geschehen solle. Lutz teilt Holger Zieglers Einschätzung, dass keine Betriebserlaubnis hätte erteilt werden dürfen.
Jänschwalde Im September wurde nach Recherchen der taz bekannt, dass es in Brandenburg noch immer schikanöse Erziehungsmethoden und auch geschlossene Türen zu geben scheint: die intensivpädagogische Einrichtung „Neustart“, betrieben vom ASB Lübben. Fünf Jugendliche, die dort waren, berichteten der taz von abgeschlossenen Türen und einer mehrwöchigen Eingangsphase mit weitgehender Isolation. Sie erzählten von abgeklebten Fenstern, angeschraubtem Mobiliar, von Polizeigriffen, umständlichen Frageritualen vor jedem Toilettengang und von einem Fehlverhalten sanktionierenden Chipsystem.
Folgen Nach Bekanntwerden der jüngsten Vorwürfe in Jänschwalde untersagte die Heimaufsicht diese Methoden vorerst und verhängte einen Aufnahmestopp für die Einrichtung. Einem Erzieher wurde der Umgang mit den Kindern und Jugendlichen verboten. Man prüfe die Vorwürfe weiter, heißt es, es gehe um die Sicherung des Kindeswohls – mal wieder. Die Frage ist, ob solche Methoden der Heimaufsicht nicht schon bei der Erteilung der Betriebserlaubnis auffallen müssten. Das Konzept der Einrichtung „Neustart“ in Jänschwalde wollten weder das Ministerium noch der Trägerverein ASB Lübben an die taz herausgeben.
Forderungen Die jugendpolitische Sprecherin der Linken, Kathrin Dannenberg, erwartete nach Jänschwalde „rückhaltlose Aufklärung durch das Ministerium. Wie kann so was passieren? Wer hat da versagt?“ Man müsse genau recherchieren, inwiefern nach dem Haasenburg-Skandal eingeführte Kontrollmechanismen versagten, und schauen, wie es in anderen Heimen läuft – „es braucht eine öffentliche und fachliche Debatte über derartige Erziehungsmethoden – die als Schwarze Pädagogik zu bewerten sind.“
Hannelore Häbel lehrt als Professorin an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg Jugendhilfe- und Familienrecht. Die Pädagogin und Juristin erkennt insbesondere in der Eingangsstufe einen entwürdigenden Umgang mit Kindern und Jugendlichen: „‚Einfache Bekleidung‘, ‚geringes privates Eigentum‘, nahezu keine freie Zeit, grundsätzlich keine Rückzugsmöglichkeiten sind meines Erachtens Indizien für kränkende und herabsetzende Umgangsweisen. Sie fallen nach meiner Einschätzung als psychische Gewalt unter das in §1631 BGB gesetzlich verankerte Gewaltverbot in der Erziehung.“
Vertreter der Einrichtung selbst wollten sich nicht äußern. Claus Petzold, Leiter des privaten Trägers Kinderhäuser Oder-Neiße e. V., und Kathrin Rauer, Leiterin des „Projekts Wolfswinkel“, waren zwar zu einem informellen Gespräch in Eisenhüttenstadt bereit, wo die Verwaltung des Trägers sitzt. Fragen zur praktischen Umsetzung des Konzepts in Storkow-Wolfswinkel wollte der Verein aber nicht beantworten. Auch einen Besuch in der Einrichtung oder ein Gespräch mit Jugendlichen wurden nicht erlaubt.
Wir wollten uns trotzdem ein Bild verschaffen. Die Einrichtung Wolfswinkel ist eine gute Stunde mit dem Auto von Berlins Stadtzentrum entfernt. Auf der Vorderseite des Geländes gibt es von einem Waldweg aus nicht viel zu sehen: Hinter einer zersprungenen Fensterscheibe an einem der grauen Bungalows hängen Tiffany-Glasdeko – eine trist wirkende Disney-Figur – und eine Gardine.
Auf der Rückseite am Seeufer geht ein Spazierweg vorbei. Hier steht ein rostiges Metalltor offen. Kein Schild weist darauf hin, dass es sich um ein Jugendheim handelt. Von dort aus sehen wir einen abgenutzten Bolzplatz und die schlichten Bungalows. Als wir durch das Tor auf das Grundstück gehen wollen, hören wir einen lauten Schrei: „Wird’s bald!“, brüllt ein Mann aus einem der Bungalows und dann noch etwas, das schwer zu verstehen ist. Eine Tür knallt.
Ein Mann steht vor dem Bungalow und telefoniert. Als er uns entdeckt, ruft er einen Kollegen aus den Inneren nach draußen. Der schließt die Tür des Bungalows und geht schnellen Schrittes auf uns zu. Wir fragen ihn, ob wir hier zur Straße durchgehen dürfen. Er verneint: „Das hier ist Privatgelände, zu Hause machen Sie doch so was auch nicht.“ Was das denn hier für ein Gelände sei, fragen wir. Eine Antwort bleibt aus. Der Mann ist muskulös, er wirkt wütend. Wir gehen lieber wieder zurück.
Haasenburg, Jänschwalde, Storkow-Wolfswinkel?
2013 wurden nach Recherchen der taz drei Heime des privaten Betreibers Haasenburg GmbH in Brandenburg geschlossen, weil deren Methoden nicht mit dem Kindeswohl vereinbar waren. Auch das Versagen der Heimaufsicht wurde damals thematisiert. Im September berichteten Jugendliche in der taz erneut von schikanösen Erziehungsmethoden in einem Heim in Jänschwalde.
Das der taz vorliegende Konzept der Einrichtung in Wolfswinkel wurde vom Jugendamt des Landkreises Oder-Spree und der dem Bildungsministerium unterstellten Heimaufsicht genehmigt. Wir wollen von den Behörden wissen, wie es zur Genehmigung kommen konnte. Das Jugendamt verweist bezüglich der fachlichen Bewertung auf das Ministerium.
Von dort heißt es, alleiniger Maßstab für eine Betriebserlaubnis sei die Gewährleistung des Kindeswohls. Wie das angesichts der im Konzept anklingenden Methoden gewährleistet sein könne, kann das Ministerium zunächst nicht beantworten. Auf unsere erste Anfrage im August, inwiefern die Heimaufsicht das Erdulden von Schmerzen, Zwangssport und Ausgang nur in Begleitung für fachlich vertretbar halte, heißt es Amtsstubendeutsch: „Im Rahmen der Prüfung hat der Träger die erforderlichen Voraussetzungen für den Betrieb einer Einrichtung erfüllt.“ Eine erneute Nachfrage ignoriert das Ministerium zunächst.
Erst als im September 2019 durch taz-Recherchen schikanöse Erziehungsmethoden in der Einrichtung Jänschwalde bekannt werden und die Heimaufsicht dort einen Aufnahmestopp verhängt, wirkt das Ministerium auch im Fall Storkow alarmiert. Auf erneute Nachfrage heißt es im Oktober: „Der Träger der Einrichtung wurde um eine Stellungnahme zu den Vorwürfen gebeten.“ Zwangssportmaßnahmen könne man aus dem Konzept aber keine herauslesen. Zudem werde derzeit die Betriebserlaubnis der Einrichtung in Storkow überprüft beziehungsweise aktualisiert, wie es auch in anderen Einrichtungen aktuell geschehe, schreibt Antje Grabley, Sprecherin des Bildungsministeriums: „Die Heimaufsicht hält gemeinschaftliche/kollektive Bestrafungen für Jugendliche grundsätzlich weder für sinnvoll noch für zulässig.“
„Über pädagogische Methoden sprechen“
Anfang November heißt es dann plötzlich, das Konzept von 2018 sei „nicht aktuell“. Auch habe es am 22. Oktober eine „unangekündigte örtliche Prüfung“ infolge der taz-Anfragen gegeben. Dabei seien Mitarbeiter, Leitung und „gesondert“ Jugendliche befragt worden. Der Träger hätte sich zu allen Fragen geäußert. Es gebe keine Hinweise, dass in nicht vertretbarer Weise in die Rechte der Kinder und Jugendlichen eingegriffen worden sei. Der im Konzept als feste Regel festgeschriebene Sport ist aus Sicht der Heimaufsicht nicht zwingend: „Nach unseren bisherigen Feststellungen haben die Minderjährigen die Möglichkeit, ohne negative Konsequenzen für sich oder die Gruppe, eine sportliche Aktivität ausfallen zu lassen.“
Seit wann es ein aktualisiertes Konzept gibt und was konkret geändert wurde, kann die Heimaufsicht auf Rückfrage nicht sagen. „Das Konzept wird derzeit vom Träger überarbeitet“, heißt es. Allerdings werde „aktuell diese Gelegenheit genutzt, auch mit dem Träger der Einrichtung in Storkow über sein Konzept und seine pädagogischen Methoden zu sprechen.“
Da weder Einrichtung noch Heimaufsicht ein neues Konzept vorzeigen mochten, lässt sich nicht nachvollziehen, ob und was verändert wurde – geschweige denn, wie aktuell die Praxis aussieht.
Hoffnung macht eine Randnotiz: Nach Schriftwechseln, die der taz vorliegen, war bei der Heimaufsicht für das Projekt Wolfswinkel ein Sachbearbeiter zuständig, der auch die 2013 geschlossenen Haasenburg-Heime betreute. Er ging in diesem Sommer in Rente.
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