Jürgen Habermas über die EU: Die zwei Körper des Europäers
Der Philosoph Jürgen Habermas hat in einem Vortrag den Zustand der Europäischen Union kritisiert. Ihm geht es um Politik, nicht um Ökonomie.
![](https://taz.de/picture/262625/14/14856610.20110620-12.jpg)
BERLIN taz | Nein, zur aktuellen Belastungsprobe des Euro sagte er kaum etwas. Der Philosoph Jürgen Habermas sprach zwar am Donnerstag an der Berliner Humboldt-Universität zur "Krise der Europäischen Union", doch betrachtete er sie, wie es im Titel seines Vortrags weiter hieß, lediglich "im Lichte einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts". Über Ökonomie wollte er sich nicht äußern, so seine für einen Intellektuellen überraschend bescheidene nachträgliche Erklärung, da sei er nicht kompetent.
Dafür entwickelte Habermas im bis in die letzte Ecke überfüllten Audimax mit gebotener akademischer Strenge den Gedanken, wie die Europäische Union als politisches Gebilde funktionieren könnte, wenn die beteiligten Regierungen denn Interesse zeigen würden, die erforderliche politische Willensbildung unter den Bürgern zu stärken. In seinem Vortrag sparte er nicht mit Kritik an den bestehenden Verhältnissen, konzentrierte sich aber weitgehend auf die Analyse der Frage, wie sich Bürger und Staat im Rahmen der Europäischen Union politisch zueinander verhalten sollten.
Wer also erwartet haben mochte, eine Fortsetzung von Habermas' im April in der Süddeutschen Zeitung formulierter harscher Kritik an der gegenwärtigen EU-Politik, insbesondere der von Bundeskanzlerin Angela Merkel, zu hören, wurde womöglich enttäuscht. Von einigen deutlichen Seitenhieben abgesehen, bewegten sich seine Einwände, wie die übrigen Erläuterungen, auf abstrakt rechtsphilosophischer Ebene. Ausgangspunkt seiner Überlegungen waren gleichwohl die - in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise vermehrt zu hörenden - europaskeptischen Einwände, die oft genug die Sinnfälligkeit der EU als solcher bezweifeln.
Kanzlerin als Symbol des Hinhaltens
Gegen die Verächter der EU stellte Habermas klar, welche verfassungsrechtlichen Innovationen mit dem Projekt verbunden sind. Die Bürger tauchen darin nämlich in zweierlei Gestalt auf: So fußt die Europäische Union - ungeachtet des Klischees vom "Brüsseler Wasserkopf" - auf einer Teilung der Souveränität zwischen Bürgern und Staaten. Das heißt, dass man als Bürger sowohl als Unionsbürger als auch als Staatsbürger an der Bildung dieses politischen Gemeinwesens beteiligt ist. Habermas sieht darin eine doppelte Gerechtigkeitsperspektive, die der "Bürger als Individuen" und die der "Angehörigen von Staatsvölkern".
Von einer Anerkennung der beiden verfassunggebenden Subjekte - Unionsbürger und Staatsvölker - als gleichberechtigte Partner sei die EU aber noch weit entfernt. Es fehle an der erforderlichen Kooperation der Mitgliedsstaaten. Das sei in der Eurokrise deutlich zu merken, in der die deutsche Kanzlerin zur europaweiten Symbolfigur für ein "hinhaltendes Taktieren" geworden sei und sich in den Bevölkerungen eine durch Populismus geschürte Ablehnung des europäischen Vorhabens breitmache.
Mangel an Verteilungsgerechtigkeit
Mit dem Rückfall in die Perspektive nationalstaatlichen Einzelinteresses werde genau das nicht bewältigt, was in der Krise als Problem der EU offenbar geworden sei: ein Mangel an Verteilungsgerechtigkeit. Solange die EU nicht die nötigen Steuerungsmöglichkeiten hat, um in sozialer Hinsicht für die "Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" zu sorgen, könne sie sich auch nicht zu einem demokratischen "supranationalen Gemeinwesen" entwickeln.
Neben Habermas, der mittlerweile 82 Jahre alt ist, haben sich mit Alexander Kluge und Hans Magnus Enzensberger in jüngerer Zeit noch weitere Intellektuelle seiner Generation kritisch zur Situation der EU geäußert, wenn auch nicht mit der gleichen Stoßrichtung. Enzensberger etwa hält die jüngere Erweiterung der Gemeinschaft für "größenwahnsinnig", während Habermas, wie er in der anschließenden Diskussion einräumte, einen EU-Beitritt der Türkei durchaus befürwortet. Ein wenig ironisch ist jedoch an Habermas' Kritik sein oft vorgetragener Einwand, die EU sei ein "von den politischen Eliten hinter verschlossenen Türen betriebenes Projekt", dem er mehr breite Öffentlichkeit wünsche: Dass seine eigenen Interventionen auf einem gleichfalls elitären Verständnis der Union beruhen, wonach die Bürger von den Medien und der Politik erst einmal richtig für die gemeinsame Sache motiviert werden müssten, um sich für Europa zu interessieren, steht auf einem anderen Blatt.
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