Jürgen Gottschlich über den Wahlsieg der AKP in der Türkei: Erdoğan weiter auf Chaoskurs
Recep Tayyip Erdoğan ist zurück, die Opposition ist am Boden zerstört. Am Tag nach dem Erdrutschsieg der Regierungspartei AKP triumphieren die Anhänger des Präsidenten und die Gegner Erdoğans sind geschockt. Wie hatte das passieren können, wo doch alle Umfragen im Vorfeld der Wahl darauf hingedeutet hatten, dass die AKP von einer absoluten Mehrheit erneut weit entfernt ist?
Die Antwort auf diese Frage wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen – nicht zuletzt die Demoskopen müssen sich fragen, wie sie so danebenliegen konnten. Fakt aber ist: Der undemokratische Angstwahlkampf der AKP hat sich ausgezahlt.
Das Chaos, das die AKP selbst geschürt hat, hat paradoxerweise dazu geführt, dass die Mehrheit der Wähler sie gewählt hat, in der Hoffnung, dass diese das Chaos auch wieder beendet. Die Partei hat das Klima vergiftet, nun soll sie endlich Ruhe geben. Nach mehr als zwei Jahren Dauerstress mit einem Wahlgang nach dem anderen hatten viele offenbar die Nase voll vom Machtkampf und haben Erdoğan gegeben, was dieser wollte. Seine „Neue Türkei“ wird jetzt nicht mehr aufzuhalten sein, insofern ist dieser Sieg historisch. Der Wechsel zum Präsidialsystem wird kommen, eher früher als später.
Eine ausschlaggebende Rolle dabei dürfte gespielt haben, dass die Opposition keine Machtalternative anzubieten hatte, jedenfalls keine, bei der die AKP durch eine neue Regierung ersetzt worden wäre. Dazu hätten so unterschiedliche Parteien wie die sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP), die kurdisch-linke HDP und die ultranationalistische MHP zusammengehen müssen, was inhaltlich kaum möglich ist. Die MHP will den Krieg gegen die Kurden, da kann sie natürlich nicht mit der HDP zusammenarbeiten. Für die CHP und die HDP allein aber reicht es so wenig wie für Rot-Grün in Deutschland. So wie in Berlin nichts ohne die CDU läuft, geht in der Türkei nichts ohne die AKP.
Hätte die AKP aber wieder keine absolute Mehrheit bekommen, wäre nur eine Koalition mit der CHP in Frage gekommen, die Präsident Erdoğan, der De-facto-Chef der Partei, aber nicht will. Die Folge davon wären weiterer Stress, weiteres Chaos, weiterer Terror gewesen – vor dieser Aussicht haben viele Leute enorme Angst gehabt. Die Folge davon ist Autoritarismus statt Freiheit.
Für viele Jahre dürfte in der Türkei nun erst einmal Friedhofsruhe einkehren, mit einer Ausnahme: der Krieg in den kurdischen Gebieten geht weiter. Erdoğan hat schon vor der Wahl angekündigt, den „Krieg gegen den Terror“ fortzusetzen, bis es in der Türkei keinen „Terroristen“ mehr gibt. Der Wähler hat diese Ankündigung belohnt. Für Erdoğan und die neue Regierung gibt es deshalb keinen Grund, jetzt zum Frieden zurückzukehren.
Das allein müsste eigentlich reichen, es der Europäischen Union und der Bundesregierung schwer zu machen, mit Erdoğan zusammenzuarbeiten oder ihn gar zu unterstützen. Nimmt die EU ihre Werte ernst, muss sie angesichts der aggressiven Vorgehensweise Erdoğans gegen jede Opposition eigentlich den türkischen Alleinherrscher unter Quarantäne stellen. Doch das Gegenteil wird der Fall sein. Seit immer mehr Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan über die Türkei in die EU kommen, brauchen die Europäer die Türkei als Pufferstaat und Erdoğan als Türwächter.
Moralische Bedenken kann man sich da nicht länger leisten. Die EU, einschließlich Bundeskanzlerin Merkel, werden Erdoğan hofieren, ihm Milliarden Euro zustecken und klaglos seine sonstigen Ansprüche erfüllen, nur damit Erdoğan riesige Flüchtlingslager in der Türkei einrichtet und seine Soldaten anweist, keine Flüchtlinge mehr über die Grenze nach Griechenland zu lassen. Vom Demokratieexport der EU in ihre Nachbarländer, vom Einsatz für Meinungsfreiheit und Menschenrechte ist da keine Rede mehr. Schon vor der Wahl hatten türkische Menschenrechtler sich über den Doppelstandard der EU beschwert, jetzt werden sie erst recht Grund dazu bekommen.
Kurzfristig mag diese Politik der EU helfen, die Zahl der ankommenden Flüchtlinge zu senken, langfristig wird es ihr enorm schaden. Denn wer in der Türkei bei Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen die Demokratie die Augen verschließt, wird auch in Ungarn nicht glaubwürdig protestieren können und bald auch in den Kernländern der EU demokratische Defizite hinnehmen.
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