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Jüdische Identität in PolenOy oy my boy is goy

Anna Tenenbaum lernt Jiddisch und entwirft „jüdisch“ inspirierte Mode. Über das Lebensgefühl junger Juden in Polen.

Anna Tenenbaum in ihrem Laden in Warschau. Bild: Marta Kusmierz

WARSCHAU taz | Mitten in der Warschauer City. Der Geheimtipp heißt Szpitalna 6. Hier, nur zwei, drei Häuser neben der berühmten Schokoladen-Trinkhalle Wedel, soll der Laden „Risk made in Warsaw“ sein. Doch kein Schild ist zu sehen. Auch nicht „Risk oy!“ Doch hinter einem Schlagbaum, weit hinten in einem großen Hof streckt eine junge Frau die Arme in die Höhe. Sie winkt. Das muss sie sein: Anna Tenenbaum. Sie nickt lachend und deutet auf ihr schwarzes T-Shirt. „Oy oy my boy is goy“ steht darauf.

„Das ist mein absolutes Lieblings-T-Shirt“, sagt die 25-Jährige. Im Laden mit den hohen grau-weißen Wänden duftet es nach Espresso und grünem Tee. Die Kulturwissenschaftlerin, die gerade ihr Studium abgeschlossen hat, lernt Jiddisch und Hebräisch, schreibt für die polnisch-jiddische Kulturzeitschrift Cwiszn (Zwischen) und entwirft und verkauft seit Kurzem auch „jüdische Mode“.

Innerhalb von wenigen Jahren ist die Bestseller-Kollektion „Risk oy“ entstanden. „Die Idee hatten zwei junge Frauen, die Lust hatten, ihre polnisch-jüdische Identität auch in der Mode auszudrücken“, erzählt sie und schiebt die schwarze Nickelbrille im Retrostil nach oben. „Inzwischen sind wir allein hier in der Szpitalna 30 Leute. Und wir lassen in ganz Polen nähen.“

Drei junge Männer kommen in den Laden. Touristen. Einer weiß genau, was er will: ein Sweatshirt mit dem Aufdruck „ISREAL“. Er probiert es an. Es passt, er lässt es gleich an. Die beiden anderen kaufen ein graues Sweatshirt mit drei weißen Davidsternen und der Aufschrift „Thanks to my mum“ und eine dunkelgraue Wintermütze mit der Aufschrift „OY“.

Rebranding des Jüdischen in Polen

Anna sagt ein paar Worte auf Hebräisch. Die drei lachen und gehen. „Es kommen viele Israelis und Amerikaner hierher. Es klingt vielleicht etwas seltsam, aber was wir hier machen, ist so eine Art Rebranding des Jüdischen in Polen.“ Normalerweise würden Juden in Polen entweder als nicht existent angesehen oder aber ausschließlich mit der Schoah in Verbindung gebracht. „Das hat mit uns, also der dritten Generation, kaum etwas zu tun“, sagt sie.

Im Ladencafé mit Sicht auf den Innenhof erzählt sie von ihrer Familie, vom Überleben der Großeltern in Sibirien, dem Verlust des größten Teils der Verwandten in Warschau und Ostpolen und der Neuansiedlung 1945 im ehemals deutschen Niederschlesien. „Meine Großeltern haben zu Hause nie etwas vom Krieg erzählt. Auch meine Eltern schnitten das Thema nicht an. Bis ich zehn war, wusste ich nicht einmal, dass der Name ’Tenenbaum“ eben nicht wie ’Kowalski‘ klingt und unsere Familie ein bisschen anders ist als die meisten Familien meiner Freunde.“

Das posttraumatische Syndrom, mit dem sich viele Kinder von Schoah-Überlebenden herumschlagen, hätte sie in ihrer Familie kaum erlebt. „Vor Kurzem habe ich an einer Podiumsdiskussion mit Vertretern der zweiten und der dritten Generation teilgenommen, also der Kinder und Enkel der Schoah-Überlebenden“, sagt sie und nippt am Cappuccino, „Für mich ist das hochinteressant, denn bei uns gab es dieses lastende Schweigen gar nicht. Es wurde nichts verheimlicht. Aber meine Großeltern und Eltern warteten auf meine Fragen. Mit 16 war ich so weit. Da begann ich langsam zu begreifen, dass die Schoah mit meiner eigenen Familie zu tun hatte.“

Dass sie inzwischen „jüdisch sozialisiert“ sei, habe mit dem auch in Polen sehr aktiven American Jewish Joint Distribution Committee zu tun. Als Jugendliche sei sie in die Ostsee-Sommercamps von Joint gefahren. Dort habe die sogenannte zweite Generation versucht, die jüdische Tradition an die Kinder weiterzugeben. „Natürlich haben sie sich bemüht, das Trauma, das sie oft unbewusst von ihren Eltern übernommen hatten, nicht auch noch an uns weiterzugeben. Aber irgendwie leben wir ein bisschen nebeneinander her.“

„Religion spielt in unserer Familie überhaupt keine Rolle“

Die Jungen hätten zwar großen Respekt vor den Eltern und noch mehr vor den Großeltern, doch die Podiumsdiskussion habe ihr klargemacht, dass zwar die Enkel mit den Großeltern sehr vertrauensvoll über schwierige Themen sprechen könnten, nicht aber oder doch sehr viel weniger die Kinder mit ihren Eltern.

„Mein Vater ist erst zu den Veranstaltungen der jüdischen Sozialkulturellen Gesellschaft in Walbrzych gegangen, als ich mich stärker für das Judentum zu interessieren begann“, erzählt sie. An den alle paar Monate stattfindenden Treffen der zweiten Generation mit Vorträgen und Psychotherapie in kleinen Gruppen habe er nie teilgenommen. „Wie gesagt, bei uns war das kein so großes Problem. Meine Mutter ist dann sogar nach Israel gefahren. Ich bin meinen Eltern wirklich dankbar dafür, dass sie sich wieder für das Judentum geöffnet haben, obwohl natürlich Religion in unserer Familie überhaupt keine Rolle spielt.“

Inzwischen frage sie auch die Großeltern nicht mehr nach der Kriegszeit, sondern nach den späten 20er und frühen 30er Jahren. „Das ist ein ganz anderer Kosmos. Außerdem lerne ich Jiddisch, und dann ist es großartig, wenn ich mit meinem Großvater und meiner Großmutter in deren Mameloszn (Muttersprache) über die Aussprache einzelner Worte streiten kann. Denn diese sprechen verschiedene Dialekte, während ich an der Uni das standardisierte Jiddisch lerne.“

Wieder geht die Ladentür auf. „Czesc“, sagt der junge Mann atemlos und wendet sich direkt an Anna Tenenbaum: „Kommst du morgen ins Kibbuz? Zur Kleidertauschaktion?“ Anna deutet auf die Espressomaschine, doch der junge Mann schüttelt den Kopf. „Ja, klar“, sagt sie, „Ich habe alles auf dem Schirm. Ich bringe ein paar Klamotten mit, und zum Fußballtraining komme ich auch!“ Sie lacht. Der Bekannte wirft ihr eine Kusshand zu und spurtet wieder weiter.

Kaum mehr Probleme mit Deutschland

„Das ist es, worum es mir immer ging: Ich wollte zu einer Gruppe von Gleichgesinnten gehören. Das ist uns Jungen gelungen. Einerseits machen wir etwas ganz Neues – wie diese Mode hier, andererseits knüpfen wird ganz bewusst an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg an und reaktivieren die früheren jüdischen Pfadfinder- und Sportverbände.“

Die dritte Generation habe auch kaum noch Probleme mit Deutschland oder „den Deutschen“. Vor allem polnische Juden, die nach 1945 in Niederschlesien geblieben sind, unterscheiden sehr genau zwischen den Nazis und den heutigen jungen Deutschen. „Ich könnte mir durchaus vorstellen, zusammen mit meinem Freund für eine Weile in Berlin zu leben. Oder auch in Stockholm oder in Tel Aviv.“ Es gehe nicht mehr darum, das jüdische Leben in Polen neu aufzubauen, wie noch für die zweite Generation. Sie trinkt den letzten Schluck Cappuccino aus. „Wir jungen Juden sind hier zu Hause – in Warschau und Krakau, Lodz, Breslau und Walbrzych. Überall und ganz normal.“

www.riskmadeinwarsaw.com

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