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Jüdische Geschichte digital aufbereitetPer Klick durch die Ruine

Dass in Hamburgs Neustadt das liberale Judentum begann, darauf weist dort wenig hin. Die Reste eines Tempels von 1844 lassen sich nun online erleben.

Im Prinzip immer zugänglich: Startbildschirm des neuen virtuellen Angebots zur Tempelruine in der Hamburger Poolstraße Foto: Christian P. Schlichte/cp360pano.com

Hamburg taz | Man habe das Datum nicht ohne Grund gewählt, sagt Andreas Dressel: Hamburgs SPD-Finanzsenator steht am Montag in einer etwas schmuddelig wirkenden Toreinfahrt in einer Gründer­zeitfront, hinter sich ein zuplakatiertes, auch besprühtes, nicht mehr ganz junges Metalltor. Die Anspielung zielt auf den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945, der heute dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus insgesamt gewidmet ist – diese Opfer waren zuallererst Europas Jüdinnen und Juden.

Und dem Judentum, seiner Lebendigkeit und Sichtbarkeit im heutigen Hamburg, sei eben dieser Pressetermin geschuldet, so Dressel weiter. Um endlich hinzuweisen auf ein kleines Schild, das, weiter oben in der Tordurchfahrt angebracht, nun über den Gehsteig hinaus ragt. Darauf ist ein QR-Code zu sehen, links und rechts davon, einmal auf Deutsch, einmal auf Englisch, ein Hinweis auf den „Einblick“, den dieser Code liefere – und oben drüber: „Tempel Poolstraße“.

Einen virtuellen Rundgang galt es vorzustellen am so historischen Datum; einen Rundgang durch das, was noch steht vom einstigen neuen Israelitischen Tempel, einer Keimzelle des bis heute vor allem in Nordamerika sehr aktiven liberalen Judentums: Hier erbaute sich gegen Mitte des 19, Jahrhunderts das noch junge Reformjudentum seinen ersten eigenen Tempel, zuvor hatte man ein umgewidmetes „Tanzhaus“ genutzt in der nahegelegenen Ersten Brunnenstraße. Im klassizistisch-neogotischen Stil mit maurischen Elementen gestaltet vom Architekten Johann Hinrich Klees-Wülbern, bot der Tempel Poolstraße Platz für immerhin rund 640 Menschen. Fast 90 Jahre lang war dies der zentrale Anlaufpunkt für das liberale Judentum.

Hinter dem QR-Code, von Dressel vor Ort überprüft, oder klassischer über die Adresse www.tempel-poolstrasse.de zu erreichen, findet sich nun ein Überblick darüber, was dort einmal stand: Von „einer schönen Ansicht als 3D-Puppenhaus“ sprach vor Ort am Montag Christian P. Schlichte, Inhaber der Firma CP 360 Pano, die mit der technischen Umsetzung betraut war. „Die Be­trach­te­r:in­nen können sich anschließend virtuell frei auf dem Gelände bewegen“, so Schlichte weiter. Es gibt 18 anklickbare „Content Points“, die dann spezifische Informationen verfügbar machen, über die Architektur etwa oder die frühere Nutzung.

Rückenwind für Synagoge

Ein parlamentarischer Freundeskreis für den Wiederaufbau der Hamburger Bornplatzsynagoge hat sich am Montag in Berlin gegründet.

Am 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau trafen sich dazu die Hamburger Bundestagsabgeordneten Christoph de Vries und Franziska Hoppermann (beide CDU), Falko Droßmann, Metin Hakverdi und Aydan Özoğuz (alle SPD), Ria Schröder (FDP) und Katharina Beck (Grüne) sowie Vertreter der Stiftung Bornplatzsynagoge.

Nach der kommenden Bundestagswahl sollten weitere Mitglieder aus dem gesamten Bundesgebiet dazugewonnen werden, um die parlamentarische Verankerung des Projekts über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg weiter zu stärken, hieß es.

Das mit dem Bewegen ist am realen Ort nämlich schwieriger: Meist stehen Interessierte vor dem erwähnten Tor mit den Plakaten und den Graffitis. Bis vor rund fünf Jahren nutzte den Hof und Teile der Tempelreste eine Autowerkstatt, was die Zugänglichkeit paradoxerweise eher verbesserte: Die Autos mussten ja rauf auf den Hof und wieder runter von ihm. Was immerhin den Blick ermöglichte – auf den beklagenswerten Zustand des Objekts: 1944 von Bomben getroffen, war, was noch stand, jahrzehntelang der Witterung ausgesetzt, woran sich auch nicht viel änderte, als es 2003 unter Denkmalschutz gestellt wurde.

„Sicherungsmaßnahmen“ erfolgten, nachdem die Stadt das Grundstück gekauft hatte, das war vor etwa fünf Jahren. „Gerettet“ habe man diesen historischen Ort, das war Dressel nun wichtig. Auf lange Sicht müsse sich das Ganze „wirtschaftlich selbst tragen“, hatte er bei früherer Gelegenheit erklärt – Hamburg ist und bleibt eine Stadt der kaufmännischen Vernunft, und man hatte schließlich Steuermittel in den Grundstückskauf investiert. Es kursierten anfangs auch irritierende Szenarien, etwa das vom Wohnungsbau, mit dem sich eine künftige Nutzung der Ruine das Areal würde teilen müssen. Jetzt sprach Dressel erneut von einer „tragfähigen“ Lösung, die her müsse. Aber der Wohnungsbau ist vom Tisch.

Dass der Tempel vergleichsweise diskret im Hinterhof stand, dürfte ihn in der großen Pogromnacht im November 1938 gerettet haben – da hatten ihn Hamburgs liberale Jüdinnen und Juden aber schon aufgegeben und unter Wert verkaufen müssen. Um eine Restitution bemüht sich der liberale Israelitische Tempelverband, der sich als Nachfolger der damaligen Bauherren sieht, allerdings auch seit längerem um seine Anerkennung als Gemeinde streitet.

Vor ziemlich genau einem Jahr, Anfang Februar 2024, warb diese kleinere der Hamburger jüdischen Gemeinden gar für einen Wiederaufbau des Gebäudes – ein cleverer PR-Schachzug vor dem Hintergrund, dass sich die Stadt, aber auch der Bund bekannt haben zum Bau einer Synagoge am einstigen Bornplatz im Hamburger Grindelviertel. Das Areal in der Poolstraße soll „mit einer Zukunftsperspektive entwickelt werden und als jüdisches Kulturdenkmal und Erinnerungsort erhalten bleiben“; was das genau heißt, ist noch in der Findung.

Zunächst interessiert die Zuständigen, was an Resten noch im Boden schlummert; zuletzt hat der Landesbetrieb für Immobilienmanagement und Grundvermögen zusammen mit der Stadt Essen per Radar den Grund durchleuchten lassen. Und irgendwann im laufenden Jahr soll auch gegraben werden hinter dem Tor in der Gründer­zeitfassade.

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