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Journalist über ein schmerzhaftes Gefühl„Scham ist eine mächtige Waffe“

Matthias Kreienbrink hat ein Buch geschrieben über das Gefühl der Scham. Hier erzählt er vom Mobbing in der Schule und den Pranger im Sprachgebrauch.

„Manchmal braucht es nicht mal eine andere Person, die eigene Stimme im Kopf reicht“, sagt Autor Matthias Kreienbrink Foto: Sophie Kirchner
Antje Lang-Lendorff
Interview von Antje Lang-Lendorff

taz: Herr Kreienbrink, wann haben Sie sich das letzte Mal geschämt?

Matthias Kreienbrink: Vor ein paar Tagen gab es so einen Moment auf dem Fahrrad. Ich fahre leider oft gehetzt und habe eine rote Ampel übersehen. Beinahe hätte ich einen Fußgänger umgefahren, der gerade über die Straße wollte. Das war knapp. Ich habe mich echt geschämt.

Im Interview: Matthias Kreienbrink

Der Autor

Matthias Kreienbrink, geboren 1985, wuchs in Osnabrück auf. Er arbeitete als Koch, machte sein Abitur am Abendgymnasium und studierte Literatur- und Geschichtswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Als freier Journalist schreibt Matthias Kreienbrink über Gesellschaftsthemen und Digitales für Zeit, Spiegel, Süddeutsche und auch für die taz. Er arbeitet zudem als Chef vom Dienst bei t3n, einem Onlinemagazin für digitale Wirtschaft.

Das Buch

Matthias Kreienbrink: „Scham. Wie ein machtvolles Gefühl unser Leben neu prägt“. Kösel Verlag, München 2025, 221 Seiten, 22 Euro

taz: Hat sich der Fußgänger denn beschwert?

Kreienbrink: Nein, der war total verblüfft. Ich habe dann noch „Entschuldigung“ hinterhergerufen. Zum Glück ist nichts passiert. Trotzdem ging gleich so ein innerer Monolog los, von wegen: Das war ja peinlich, eigentlich machst du so was doch nicht. Manche Regeln gibt es aus gutem Grund, zum Beispiel Ampeln. Und es ist auch okay, dass wir uns schämen, wenn wir sie nicht beachten und dadurch jemanden gefährden. Das hat dann einen Lerneffekt. Das nächste Mal werde ich an der Kreuzung ganz sicher auf die Ampel schauen.

taz: Dann war die Scham also gut.

Kreienbrink: Ja, in dem Fall schon. Oft ist Scham aber auch destruktiv.

taz: Haben Sie ein Beispiel?

Kreienbrink: Vor ein paar Wochen war ich mit meinen beiden Schwestern in der Heimat, in Niedersachsen. Wir haben eine Wanderung gemacht und uns abends gegenseitig Fotos geschickt. Auf einem Foto fand ich mich sehr unansehnlich. Das war aus einem Winkel aufgenommen, durch den mein Körper echt unförmig wirkte. Ich war in meiner Jugend übergewichtig und habe gemerkt, dass die Scham von damals immer noch ganz stark in mir drin ist. Ich hatte in den zwei, drei Tagen danach immer diesen Reflex, meine Kleidung zurechtzuzuppeln, um ja nicht wieder unförmig auszusehen. In dem Fall hat mich die Scham nur gehemmt.

taz: Sie haben kürzlich ein Buch über die Scham geschrieben, der Untertitel lautet: „Wie ein machtvolles Gefühl unser Leben neu prägt“. Das ist erstaunlich. Haben wir in den vergangenen Jahrzehnten nicht viele Zwänge hinter uns gelassen und schämen wir uns heute nicht weniger?

Kreienbrink: Das stimmt. Und es stimmt nicht. Wir haben diese Erfolgserzählung aufgebaut, dass wir uns als liberale Gesellschaft immer mehr von der Scham befreien. Teilweise ist das richtig. Menschen werden heute sicherlich weniger für ihre Körper oder ihr Aussehen beschämt als früher. Und wenn doch, sagen andere öfters etwas dagegen. Auch psychische Erkrankungen wurden ein Stück weit enttabuisiert. Es gab echte Fortschritte wie die sexuelle Befreiung. Queere Menschen haben eine andere Selbstverständlichkeit. Es ist heute viel normaler, dass sich zwei Männer auf der Straße küssen.

taz: Klingt doch super.

Kreienbrink: Gleichzeitig ist die Scham im öffentlichen Diskurs aber so machtvoll wie lange nicht. Scham wird als Mittel genutzt, um andere Menschen zurechtzuweisen und sich selbst auf der richtigen Seite zu verorten. Egal ob es um Fragen der Identität geht, um gendergerechte Sprache, um den Klimawandel, um Fragen der Erziehung oder um gute Arbeit: Wir reden ganz oft nicht über Inhalte, über die Sache, sondern über die, die etwas dazu sagen. Das ist auch verständlich. Die Welt ist komplex, und durch das Internet sehen wir diese Komplexität ständig. Kriege, Hungersnöte, und immer soll man gleich einen Standpunkt dazu haben. Viele legen sich sehr schnell auf eine Meinung fest, sie diskreditieren und beschämen andere, die ihre Meinung nicht teilen. Statt zu differenzieren, werden Fronten ge­bildet.

taz: Scham ist zunächst eine physische Reaktion. Was genau passiert, wenn wir uns schämen?

Kreienbrink: Scham ist eine Stress­reaktion, der Körper schüttet vor allem Adrenalin und Cortisol aus. Der Herzschlag erhöht sich, der Blutdruck steigt. Dadurch werden wir in den Fight-or-Flight-Modus versetzt. Wir fangen an zu schwitzen, die Gefäße weiten sich. Das ist auch der Grund, warum wir rot werden, wenn wir uns schämen.

taz: Was unterscheidet die Scham von der Angst?

Kreienbrink: Angst und Scham sind oft verschränkt – etwa wenn wir Angst davor haben, uns zu schämen. Generell weist uns die Angst aber eher auf etwas hin, das passieren könnte, die Scham auf etwas, das passiert ist. Wahrscheinlich spielen auch die Spiegelneuronen im Gehirn eine Rolle. Wir stellen uns vor, was andere gerade über uns denken, wir wechseln die Perspektive. Bei Schamerlebnissen ist vor allem der präfrontale Cortex aktiv. Das ist der Teil des Gehirns, der hinter der Stirn sitzt. Er ist auch für Empathie zuständig.

taz: Heißt das, empathische Menschen schämen sich leichter?

Kreienbrink: Das könnte sein. Wenn ich andere Menschen stärker wahrnehme, wechsle ich vielleicht auch eher in den Modus: Oh Gott, was denken sie gerade über mich?

taz: Scham wird häufig durch etwas ausgelöst, was jemand anderes sagt oder schreibt.

Kreienbrink: Manchmal braucht es nicht mal eine andere Person, die eigene Stimme im Kopf reicht, schon schämen wir uns. Aber ja, anders als andere Emotionen kann Scham leicht durch einen reinen Sprechakt ausgelöst werden, sogar ohne Anlass. Wenn man auf einem öffentlichen Platz auf eine Person zuläuft, die man gar nicht kennt, mit dem Finger auf sie zeigt und laut ruft: Du solltest dich schämen! Dann schauen alle drumherum, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Person tatsächlich rot wird und sich schämt.

taz: Oder sie denkt: Was will der denn?

Kreienbrink: Vielleicht ist sie verwundert, aber die Scham spielt sicher auch eine Rolle, schon weil viele Leute gucken. Man fragt sich dann automatisch: Habe ich was falsch gemacht? Es ist viel schwerer, jemandem mit Worten Angst zu machen, als jemanden zu beschämen. Wie konntest du das tun? Schämst du dich nicht? Das sind alles Sprechakte, die Scham auslösen.

taz: Welche gesellschaftliche Funktion haben solche Sätze?

Kreienbrink: Menschen werden dadurch herabgesetzt. Sie haben vielleicht gegen eine Norm verstoßen, die für eine Gemeinschaft gilt, sie werden beschämt und im schlimmsten Fall aus der Gruppe ausgestoßen. Es kommt nicht nur zu einer Entfremdung von den anderen, sondern auch von uns selbst. Ich wechsle in der Scham die Perspektive, schwebe plötzlich über mir und sehe mich, wie andere mich sehen.

taz: Sie schreiben im Buch, Scham sei immer auch ein Angriff auf die Person. „Die Schuld sagt uns: Du hast einen Fehler gemacht. Die Scham sagt uns: Du bist der Fehler.“

Kreienbrink: Beim Schämen wird die eigene Position, das eigene Ich entwertet. Deswegen ist Scham auch so unangenehm oder sogar schmerzhaft. Sie trifft uns als Menschen und lässt uns verstummen.

taz: Für Sie war die Schule der Ort, an dem Sie sich oft geschämt haben.

Kreienbrink: Nach der Grundschule wechselte ich auf eine katholische Schule. Ich war in der Zeit etwas moppelig. Das Mobbing, wie ich es heute nenne, ging gleich nach dem Schulwechsel los, aus Frust habe ich dann noch mehr gegessen. Der Klassenraum war im vierten Stock, wenn ich oben ankam, war ich am Keuchen und im Sommer verschwitzt. Ich erinnere mich, wie Kinder zu mir kamen und sagten, ich sei zu dick. Diese Szenen habe ich noch genau im Kopf. Es ist typisch für die Scham, dass sich Erinnerungen bildlich einbrennen. Ich bin teils wochenlang nicht zur Schule gegangen, so groß war meine Angst, bloßgestellt zu werden. Ich lag abends in meinem Bett und habe panisch überlegt, was ich am Morgen meiner Mutter erzähle könnte, weswegen ich wieder nicht in die Schule kann.

taz: Ist Ihnen niemand zur Seite gesprungen?

Kreienbrink: In der Schule? Nein. Die Lehrer haben entweder weggeguckt oder sogar mitgemacht. Eine Lehrerin hat mir vor der gesamten Klasse die Arbeit zurückgegeben, einen Deutschaufsatz, und gesagt: Das Einzige, was du richtig geschrieben hast, ist dein Name. Sie war auch unsere Sportlehrerin. Ich hatte wegen meines Übergewichts ein Attest, aber sie hat das nicht immer anerkannt. Einmal musste ich vor der versammelten Klasse einen Salto vormachen. Das konnte ich natürlich nicht.

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

taz: Krass.

Kreienbrink: Ich wurde in der Schule immer schlechter. Ich habe mir Sätze zurechtgelegt, die ich hätte sagen können, wenn ich schlagfertig gewesen wäre. Aber es ging nicht, ich war sprachlos. Ich saß wie ein Häufchen Elend im Klassenraum und habe das über mich ergehen lassen.

taz: Und Ihre Familie?

Kreienbrink: Ich hatte und habe ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter und meinen Schwestern. Aber auch vor ihnen habe ich mich geschämt, ich wollte nicht darüber sprechen. Wie schlimm das alles für mich war, habe ich erst Jahrzehnte später in Worte fassen können.

taz: Ist das Buch Teil der Aufarbeitung?

Kreienbrink: Sicherlich auch, aber das ging vorher los. Ich habe nach der Realschule eine Ausbildung zum Koch gemacht, am Abendgymnasium das Abitur nachgeholt und dann studiert, Philologie und Geschichte in Berlin. Später habe ich als Journalist Artikel über Übergewicht und Scham geschrieben und mich mit vielen Ex­per­t*in­nen und Betroffenen unterhalten, das war hilfreich. Schon im Studium habe ich mich mit dem Thema befasst, ich habe in der Älteren Deutschen Literatur Texte wie den „Parzival“ nach Scham abgesucht. In den höfischen Romanen schämen sich die Menschen sehr vehement. Natürlich gab es im Mittelalter andere Normen. Aber die Scham zeigte auch damals die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptablen auf. Wer dagegen verstoßen hat, wurde beschämt und im schlimmsten Fall wortwörtlich vom Hof gejagt.

taz: Die Scham gehört zur Geschichte der Menschheit?

Kreienbrink: Scham gab und gibt es immer. 2018 ist eine Studie erschienen, die Scham in verschiedenen Kulturen weltweit untersucht hat. Trotz unterschiedlicher Sprachen und Lebensweisen ist die Scham in jeder Gemeinschaft mit der Abwertung der sozialen Stellung verbunden. Das ist immer gleich. Je nach Zeit und Ort unterscheiden sich allerdings die Anlässe, für die sich Menschen schämen. In Japan empfinden es die Leute beispielsweise als Schande, nach Hilfe zu fragen. Bei einer Bevölkerungsgruppe im Amazonasgebiet tragen die Frauen nur eine Schnur um die Körpermitte, sie verdeckt kaum etwas. Aber wenn sie die Schnur ablegen sollen, schämen sie sich. Jede Gesellschaft bestimmt für sich, was als peinlich gilt.

taz: Früher wurde von staatlichen oder kirchlichen Autoritäten bestimmt, für was man sich zu schämen hat. Heute ist das viel diffuser.

Kreienbrink: Scham ist eine mächtige Waffe, sie kann Hierarchien herstellen oder verstärken. Den mittelalterlichen Pranger gibt es nicht mehr, aber wir haben ihn immer noch im Sprachgebrauch, und manche der Strukturen können wir auf heute übertragen. Wenn die Menschen damals auf dem Dorfplatz gedemütigt und ausgestellt wurden, dann funktionierte das nur, weil viele zugeschaut haben, weil es eine Öffentlichkeit gab. Die sozialen Medien sind auch sehr öffentliche Orte, sehr viele Menschen lesen da mit oder schauen zu. Das ist schon mal eine Vorbedingung dafür, dass Beschämung gut funktioniert. Die Scham hat sich im Laufe der Zeit von der Obrigkeit losgelöst. Anders als auf dem Marktplatz früher ist die Scham im Netz eine Waffe, die jeder schwingen kann, es braucht keine gehobene Position mehr.

taz: Die Menschen beschämen sich gegenseitig?

Kreienbrink: Ja. Das lässt sich auch erklären. Es herrscht in den sozialen Medien eine große Kontextlosigkeit, da fällt es leicht, andere zu diskreditieren. Wir lesen die Äußerungen von Menschen, wir sehen aber nicht, mit welcher Mimik sie das von sich geben, wir wissen auch häufig nicht, wer sie überhaupt sind. Dann hat man auch weniger Mitgefühl. Das Tempo in den Debatten ist heute zudem unglaublich hoch. Schon zwei Minuten, nachdem ­irgendwas passiert ist, haben sich viele dazu eine Meinung gebildet. Es entsteht sehr schnell eine große Eindeutigkeit.

taz: Andererseits bieten gerade soziale Medien die Chance, sich von Scham zu befreien, #bodypositivity ist dafür ein Beispiel. Menschen bestärken sich gegenseitig, zu ihren Körpern zu stehen, auch wenn die von gängigen Schönheitsnormen abweichen.

Kreienbrink: Natürlich! Ich bin der Letzte, der die sozialen Medien verteufeln will. Es ist toll, dass Menschen im Netz eine Öffentlichkeit und eine Sprache finden, um über Dinge zu reden, die sie beschäftigen, über Body Positivity, Mental Health, über sexuelle Vorlieben. Sie finden eine Community, schaffen Sichtbarkeit. Während die eine Art der Beschämung abnimmt, nimmt aber eine andere zu. Ich nenne das die Mikrobeschämungen.

taz: In Anlehnung an Mikroaggressio­nen?

Kreienbrink: Genau. Ähnlich wie rassistische Mikroaggressionen sind diese Beschämungen nicht besonders offensichtlich, in ihrer Menge sorgen sie jedoch für chronische Pein. Ständig werden Menschen in den sozialen Medien oder Kommentarspalten auf kleine Fehltritte verwiesen. Das Internet ist kein separater Raum, diese Diskursverschiebung gibt es längst auch in Zeitungen, in Talkshows, im Parlament. Zum Beispiel, wenn wir über die Klimakrise reden. Dann geht es ganz schnell nur um das Würstchenverbot, um grüne Irre und oder um Flugscham. Über die eigentlichen Ursachen und sinnvolle Maßnahmen dagegen sprechen wir kaum.

taz: Was ist gegen Flugscham einzuwenden? Wenn ein paar Leute weniger ins Flugzeug steigen, ist das doch gut.

Kreienbrink: Das sehe ich anders. Es geht nicht um einzelne Menschen, die was Böses tun. Große Firmen verursachen unfassbare Mengen an CO2, das müssen wir ändern. Stattdessen reden wir über Taylor Swift, die mit ihrem Privatjet von hier nach da geflogen ist.

taz: Reiche sind verantwortlich für einen großen Teil des CO2-Ausstoßes.

Kreienbrink: Aber die trifft die Flugscham gar nicht, sondern wahrscheinlich eher die Leute mit wenig Geld, die nur alle Jubeljahre überhaupt Urlaub machen können. Und die sollen sich dann bitte auch noch schämen? Ich glaube nicht, dass wir mit der Flugscham die Klimakatastrophe lösen. Sie ist nur die einfachste Antwort auf ein sehr komplexes Problem.

taz: Es liegt sicherlich auch an den vielen Krisen, dass der Ton schärfer geworden ist. Besonders deutlich war die Frontenbildung während Corona.

Kreienbrink: Das habe ich mit Befremden beobachtet. Die Pandemie ist in ihrer ganzen Komplexität in unsere vier Wände eingebrochen. In den ersten Wochen war klar, jede gefestigte Meinung ist unangebracht, dafür wussten wir viel zu wenig. Dann konnte man in den sozialen Medien live mitlesen, wie sich die Leute nach und nach festgelegt haben auf einen Standpunkt und den dann unversöhnlich verteidigt haben. Nach dem Motto: Ich habe recht, und alle anderen sind verantwortungslose Arschlöcher, die ihre Mitmenschen gefährden und so weiter. Ich war selbst sehr vorsichtig, ich bin drei Mal geimpft und habe immer Maske getragen. Aber wie sich manche aufgeschwungen haben, andere zu verurteilen, in was für einer beschämenden Sprache, das fand ich erschreckend.

taz: Woher kam dieses Bedürfnis?

Kreienbrink: Ich glaube, das liegt an der Unfähigkeit, Ambiguität auszuhalten. Wenn man andere beschämt, verortet man sich selbst auf der richtigen Seite, welche auch immer das ist. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass ein beschämender Diskurs nicht produktiv ist. Das führt zu keiner Erkenntnis, nur zu Stillstand. Wir kommen so nicht weiter. Es wäre an der Zeit zu sagen: Okay, das funktioniert nicht, vielleicht überlegen wir uns jetzt mal was anderes.

taz: Was denn?

Kreienbrink: Ich würde mir mehr Mut wünschen, Zweifel und Ambivalenzen zu benennen. Natürlich bewegen wir uns in einem demokratischen Diskursrahmen, bestimmte Grenzen müssen gelten. Aber innerhalb dessen würde ich mir mehr Offenheit für andere Positionen wünschen. Mehr Auseinandersetzungen, die um die Sache gehen und nicht auf Personen abzielen.

taz: Stattdessen verhalten sich Po­li­ti­ke­r*in­nen wie Donald Trump oder Abgeordnete der AfD schamlos und werden genau dafür gewählt. Ist das auch eine Reaktion auf zu viel Scham im Diskurs?

Kreienbrink: Das ist sicher nicht der einzige Grund, aber könnte dazu beigetragen haben. Wenn ich für meine Meinung die ganze Zeit angebrüllt werde, dann gehe ich zu den Leuten, die auch angebrüllt werden, selbst wenn ich nicht mit allem übereinstimme, was die so sagen. Was ich verheerend finde: Weil die Debatte schon lange so erhitzt ist, fällt jetzt viel weniger auf, was für krasse Sachen die AfD sagt und tut. Die Empörung hat sich abgenutzt.

taz: Die Frage ist, wie wir es schaffen, wieder besser miteinander zu reden.

Kreienbrink: Darauf gibt es keine einfache Antwort. Ein Ansatzpunkt wäre, die sozialen Medien zu regulieren. Mit Hass und beschämenden Posts generiert man bislang die meisten Klicks. Vielleicht brauchen wir öffentlich-rechtliche soziale Medien. Ich glaube aber, die stärkste Waffe gegen die Polarisierung ist der Zweifel. Wir alle können mal irren. Wir sollten nachsichtiger sein, mit anderen und mit uns selbst.

taz: Sie haben sich lange intensiv mit der Scham auseinandergesetzt. Können Sie sie heute besser steuern?

Kreienbrink: Ich habe sicher Antennen entwickelt für schamvolle Momente und nehme sie viel bewusster wahr. Aber ob ich sie besser im Griff habe? Ich würde sagen, im Gegenteil. Ich lasse die Scham zu. Wenn ich merke, ich schäme mich gerade, dann sage ich mir: Okay, das ist jetzt so. Dieses: Ich bin doch ein emanzipierter queerer Mann, wieso schäme ich mich denn jetzt für meinen Körper? Das macht es nur schlimmer. Ich schäme mich nicht mehr für die Scham.

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6 Kommentare

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  • Definitiv ein wichtiges Interview.

    Gerade auch für die taz-Foren, wo laufend sich jemand für alles Mögliche schämt oder erwartet, dass jemand anderes sich schämt.

  • Danke für den Artikel, ein wirklich unterschätzte Thema.

  • Es wäre schon eine Verbesserung, wenn sich manche a-sozial Handelnde mehr, manche Stigmatisierte weniger schämten.

    • @Janix:

      Und es wäre auch gut, wenn einige der TAZ Foristen nicht immer wieder andere wegen deren Meinung beschämen, denn die linkseingestellten sind nicht immer auch die besseren Menschen. Auch wenn sie das oft von sich gerne glauben.

  • Was für ein gutes Interview.



    Vom ersten bis zum letzten Wort. Keine Schuldzuweisung in egal welche Richtung, einfach nur die nackte Analyse.



    Und die ist erschreckend zutreffend, Beispiel Flugscham. Die trifft laut Interview "eher die Leute mit wenig Geld, die nur alle Jubeljahre überhaupt Urlaub machen können. Und die sollen sich dann bitte auch noch schämen? Ich glaube nicht, dass wir mit der Flugscham die Klimakatastrophe lösen. Sie ist nur die einfachste Antwort auf ein sehr komplexes Problem."



    Wie wahr, wie wahr. Die Debatte verkam zur Grundsatzdiskussion, ob Urlaub auf Mallorca noch zeitgemäß ist.



    Großkonzerne, Kriege, Flugzeuge die Schnittlumen aus Kenia, Ecuador oder Thailand täglich um den Globus fliegen, es gäbe so viele Beispiele der sinnlosen CO2 Verschwendung, die zurecht an den Pranger gehört hätten, stattdessen wurde den Pauschaltouristen ihr Sommerurlaub madig gemacht und die Debatte dadurch im Nirgendwo versenkt.



    Das Bedürfnis, sich explizit einzelne Menschen herauszunehmen und diese direkt zu kritisieren, hat die Debattenkultur enorm negativ beeinflusst.

    • @Saskia Brehn:

      Natürlich wäre unser Planet besser dran, wenn nicht einige davon Grundbedürfnis mit z.B. Fliegen verwechseln würden. Das _ist ein großer Brocken, das zu bezuschussen hätte längst aufhören müssen.

      Natürlich darf das zugleich nicht zur Ablenkung von anderem dienen. Und Superreiche gezielt zu beschämen, halte ich angesichts deren Folgekosten für überlegenswert.