Jesiden in Norddeutschland: Die zweite Heimat
In Norddeutschland lebt die größte Exil-Community der Jesiden. Ihre Migrationsgeschichte beginnt mit dem Ruf nach Gastarbeitern.
BREMEN taz | Das Telefon von Cindi Tuncel steht nicht still. Seit 2011 sitzt er für die Linkspartei in der Bremischen Bürgerschaft. Dass er auch Jeside ist, zur religiösen Minderheit unter den Kurden gehört, stieß bis vor Kurzem kaum auf Interesse. Doch derzeit gibt es für Tuncel nur ein Thema: den Völkermord an seinen Angehörigen im Irak durch die Terroristen des „Islamischen Staates“ (IS).
Ähnlich geht es Telim Tolan, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Jesiden in Oldenburg oder Hatab Omar, der in Hannover die „Ezidische Akademie“ leitet. Sie alle kennen sich, sind über Ecken verwandt, denn Jeside wird man nur durch Geburt.
Und: Die jesidische Exil-Community konzentriert sich in Norddeutschland. Von den 80.000 bis 100.000 Jesiden in Deutschland wohnen die meisten in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Northeim, Göttingen oder Bielefeld sind jesidische Hochburgen, allein in Bremen leben schätzungsweise 3.000. Celle gilt sogar als Stadt mit den zweitmeisten Jesiden nach Shingal im Nordirak.
Das Leben der Jesiden in Deutschland ist geprägt von dem Bemühen um Verwurzelung in der neuen Heimat, von Vorurteilen gegen eine als patriarchal geltende „Geheimkultur“ und von der identitären Zerreißprobe, sich entweder den überwiegend muslimischen Kurden zuzuordnen und dem Kampf der PKK anzuschließen oder als unpolitische religiöse Gemeinschaft am Tisch deutscher Integrationsbeauftragter willkommen zu sein.
Farbfernsehen dank Jesiden
Dass Norddeutschland das Ziel für viele Jesiden bleibt, hängt mit deren Migrations- und Verfolgungsgeschichte zusammen. Abhängig von ihrem Herkunftsland, hatten Jesiden mal mehr und mal weniger Probleme, einen festen Aufenthaltsstatus in Deutschland zu bekommen.
Die erste große Einwanderungsphase begann in den 1960er-Jahren: Unter den Gastarbeitern aus der Türkei waren viele Jesiden. Manche gingen nach Celle: Die Firma Telefunken begann hier 1966 in einem neuen Werk mit der Produktion von Farbfernsehern.
Zu einer weiteren großen Einwanderung kam es nach dem Militärputsch in der Türkei im September 1980, als Jesiden wie alle Kurden unter der Diktatur von General Kenan Evren zu leiden hatten. Das Verwaltungsgericht Stade erkannte die Jesiden aus der Türkei 1982 erstmals als „Gruppenverfolgte“ an. In den nächsten Jahren folgten weitere Urteile in Niedersachsen, 1989 zog Nordrhein-Westfalen als Bundesland nach. Durch den Nachzug in die norddeutschen Wohnorte ihrer Verwandten leben heute so gut wie keine Jesiden mehr in der Türkei.
Nach dem Giftgasangriff Saddam Husseins auf die Kurden im nordirakischen Halabdscha 1988 und dem zweiten Golfkrieg 1990 flohen wieder vermehrt Jesiden nach Deutschland. Auch aus Syrien kamen Familien – immer in die Städte, in denen ihre Verwandten lebten.
Erstmals freie Religionsausübung
Cindi Tuncel kam 1985 als Achtjähriger mit seinen Eltern und sieben Geschwistern aus der Türkei. Es sei das erste Mal gewesen, dass sie ihre Religion frei ausüben konnten, sagt er: „Seitdem ist das unsere Heimat. Ich bin Bremer.“ Er ging hier zur Schule, studierte soziale Arbeit, ist mittlerweile in der Integrationsabteilung beim Landessportbund – wenn er nicht für die Linkspartei Politik macht.
Dass die jesidischen „Gastarbeiter“ aus der Türkei seit den 1980er-Jahren die rechtliche Perspektive bekamen, in Deutschland zu bleiben, trug zum sozialen Ankommen in der Gesellschaft bei. Für alle anderen blieb die Anerkennung als Flüchtlinge weiterhin eine Einzelfallentscheidung. Manche, etwa aus Syrien, lebten jahrelang mit einer „Duldung“, ohne klare Perspektive. Das änderte sich erst mit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs 2011.
Bis in der jesidischen Community klar war, dass in Deutschland nichts ist, wer keinen Verein hat, dauerte es eine Zeit. Anfang der 1990er-Jahre gründeten sich die ersten jesidischen Kulturvereine. Heute gibt es über 60 Zusammenschlüsse in Deutschland. „Das war neu für die Jesiden“, sagt der Göttinger Religionswissenschaftler Thorsten Wettich. Eine der wichtigsten Aufgaben der Vereine und Kulturzentren sei es, Räume für Trauerfeiern zu bieten.
„Durch die Struktur der Vereine hat sich für die Community viel verändert“, sagt Wettich. Traditionell teilen sich die Jesiden in drei Kasten: die Sheikh und Pir als Geistliche und die Muriden als Laien. Veränderung habe es vor allem bei der Übermittlung religiösen Wissens gegeben: „Diese Aufgabe fällt traditionell vor allem den beiden Geistlichen-Kasten zu“, so Wettich. Durch die Übernahme von Verantwortung in den Vereinen hätten sich nun auch die Muriden aus der Laien-Kaste repräsentativen und pädagogischen Aufgaben gewidmet. „Dadurch tut sich was“, so Wettich.
In Deutschland zählen nur Vereine
Einer der ältesten Vereine ist das „Yezidische Forum“ in Oldenburg, das 1993 gegründet wurde. Im Stadtteil Kreyenbrück nahe der Autobahn gelegen, ist es ein Anlaufpunkt für Jesiden weit über die Region hinaus. Das Gebäude wirkt von außen wie eine Sporthalle, auch innen lassen nur Fotos aus Kurdistan und ein üppiges Wandgemälde des heiligen Orts Lalish die spirituelle Funktion der Versammlungshalle erahnen.
Als sich vor einer Woche syrische Jesiden trafen, um Hilfe für Flüchtlinge zu organisieren, kamen 50 Familienvertreter aus ganz Norddeutschland. Wer neben wem und in welcher Reihe saß, war kein Zufall. Dass die Kasten noch immer bedeutungsvoll sind, wurde klar, als ein junger Mann in lockerem Sakko und Nike-Turnschuhen den Saal betrat: Sofort machten einige ältere Männer ihm in der Mitte der ersten Reihe Platz. Er gehörte zu einer der geistlichen Kasten.
Für den Göttinger Professor Philipp Kreyenbroek gab besonders die Zuwanderung der Jesiden aus dem Irak seit den 1990er-Jahren einer Etablierung in Deutschland einen Schub: „Das hat dem Jesidismus eine Stimme gegeben, weil die Leute aus dem Irak besonders gebildet waren“, so Kreyenbroek. Er leitet an der Uni Göttingen das Seminar für Iranistik, mit einem Forschungsschwerpunkt zu kurdischer und jesidischer Kultur. Vor Jahren hätten ihn noch befreundete Jesiden als Experten aufgesucht, um mehr über ihre eigene Religion zu erfahren. Das sei nun anders: „Mittlerweile sind die Jesiden selbst in der akademischen Welt angekommen“, so Kreyenbroek.
Fragen der Polizei
Auch die Polizei hatte einst Fragen an ihn, wollte wissen, was es mit diesen „Teufelsanbetern“ und ihrer „Geheimreligion“ auf sich habe. Ermittelt wurde gegen Jesiden aus Celle, wegen möglicher Nähe zur PKK. Was in Deutschland über Jesiden bekannt war, stammte vor allem aus den Schlagzeilen über die Ehrenmorde, die es gegeben hatte: Etwa an Arzu Ö. aus Detmold, die 2011 von ihrem Bruder erschossen wurde, der ihre Beziehung zu einem Russlanddeutschen nicht akzeptierte. „Ehrenmorde kommen im Heimatland bei den Jesiden fast nie vor“, sagt Kreyenbroek.
Tatsächlich gibt es längt jesidische Wissenschaftler, die für sich selbst sprechen können. Hatab Omar etwa, der 2009 die „Ezidische Akademie“ in Hannover gründete. Der Sozialpsychologe forscht mit anderen Wissenschaftlern über die jesidische und andere Minderheiten – „auch über Ehrenmorde und Zwangsheirat“, sagt er. Oder über Migrationserfahrungen: „Durch die historische Verfolgung sind die Jesiden größtenteils traumatisiert und leiden darunter bis heute“, sagt Omar.
Er sieht die Politik als größtes Integrationshindernis für die Jesiden. „Einige sagen, dass sie Kurden sind, kurdische Jesiden, jesidische Kurden. Wir sagen, wir sind Jesiden“, so Omar. Die Akademie sei selbstständig und neutral, denn: „Wenn sich Ideologie und nationalistische Gedanken einmischen, besteht die Gefahr, dass die Menschen nicht mehr zusammen leben können.“
Omar vertritt eine bestimmte Fraktion unter den Jesiden, die sich stark abgrenzt von der PKK. Schon der Verdacht, der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei nahezustehen, reicht, um in Deutschland politisch im Abseits zu stehen: Fördergeld bleibt aus, Politiker vermeiden Kontakt.
Kampf um Kurdistan oder reines Jesidentum
Der studierte Politikmanager Ömer Cengiz aus Delmenhorst sieht das anders. „Meine Sprache ist kurdisch, meine Kultur ist kurdisch, mein Essen ist kurdisch, nur meine Religion ist nicht muslimisch“, sagt Cengiz. Auch wenn die Jesiden jahrhundertelang nicht nur von Muslimen, sondern auch von muslimischen Kurden unterdrückt worden seien, so sei er Kurde und Jeside. Cengiz lebt seit 30 Jahren in Deutschland, arbeitet als Dolmetscher und Dozent für Deutsch als Zweitsprachler. Er ist für einen Kontakt zu den kurdischen Parteien. Nur so könne man gegen Unrecht angehen – eine Sicht, die durch die aktuellen Ereignisse im Nordirak unter den Jesiden erstarkt ist. Viele meinen, einzig die Kämpfer des syrischen PKK-Arms YPG hätten den Jesiden geholfen, die nordirakischen Peschmerga hätten sie dagegen im Stich gelassen.
Cengiz findet, die Jesiden bräuchten eine stärkere Vertretung. Der Zentralrat tue etwas, aber mehr wäre nötig. Mit anderen jesidischen und christlichen Intellektuellen hat er eine Medieninitiative gegründet, um aufzuklären.
Cengiz gehört zu einer neuen Generation von Jesiden, die etwa von den traditionellen Heiratsregeln nicht viel halten: Seine vier Kinder sollen wie die deutschen Kinder aufwachsen. „Wenn mein Sohn schwul ist oder eine deutsche Freundin hat, möchte ich damit kein Problem haben“, sagt er. Er will sich integrieren, es gebe kein Zurück. „Nur die Religion und die Sprache dürfen wir nicht total vergessen.“
Mehr zu den Jesiden in Norddeutschland gibt es in der gedruckten Wochenendausgabe der taz oder am E-Kiosk.
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