Jesiden-Demo gegen IS-Terror im Irak: „Das Lächeln ist verloren“
In Bielefeld haben tausende Jesiden gegen den Terror der IS-Miliz im Irak demonstriert. Viele sprechen von einem Genozid gegen ihre Gemeinschaft.
BIELEFELD taz | Tahsin hebt beschwichtigend die Arme. Er versucht, seine jesidischen Glaubensbrüder und -schwestern zurückzuhalten. Für wenige Minuten stehen sich emotionsgeladene Jugendliche, die „Fuck Isis“ skandieren, und die angerückte Hundertschaft Auge in Auge gegenüber. Die bis dahin friedliche Demonstration droht zu kippen. Angeblich haben Salafisten die Demonstranten provoziert. Niemand weiß genau, was passiert ist. Die Veranstalter sprachen gerade ihre Schlussworte, als einige begannen, in eine Seitenstraße zu rennen. Entgegen der Appelle der Veranstalter folgten ihnen viele.
„Sie wissen nicht, wohin mit ihrer Wut“, sagt Tahsin, dessen Familie ihren Nachnamen aus Angst vor salafistischen Übergriffen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Die Jungen sehen nur die Bilder bei Facebook, auf denen Jesiden enthauptet werden“, meint er.
Dank des gut funktionierenden Ordnersystems lösen sich die Spannungen bald wieder auf. Die Jesiden wissen, dass sie zur Zeit „im Licht der Welt stehen“, wie Servet Tekce sagt. Sie wollen ihre Botschaft nicht durch unüberlegte Aktionen aufs Spiel setzen. Servet ist aus Oldenburg nach Bielefeld angereist. Im Vorfeld der bundesweiten Großdemo gegen den Vormarsch der Dschihadistengruppe Islamischer Staat (IS, ehemals Isis) hätten sie immer wieder betont, dass es hier friedlich ablaufen solle.
Es ist Servet anzumerken, wie aufgewühlt er ist. Seiner Arbeit bei einem Baumaschinenhändler hätte er in den letzten Tagen nur halbherzig nachgehen können. „Es frisst mich auf“, sagt er im Hinblick auf die Bilder, die ihn aus dem Nordirak erreichen. Ihn würde das an Szenen aus dem Holocaust-Film „Der Pianist“ erinnern. Er ist froh, hier in Deutschland zu leben. „Die Freiheit, die wir hier genießen dürfen – Hut ab!“
Als er damals, während seines Wehrdienstes, eine Rede von Ex-Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) erlebt habe, habe ihn das stolz gemacht. Der 26-Jährige hat Deutschland den Eid geschworen, doch das die Bundesrepublik nun tatenlos zusehe, zerrütte sein Bild von Deutschland. Wie viele andere betont er, dass sich die Demonstration nicht gegen den Islam richten würde: Die IS-Miliz seien für ihn keine Muslime. Es sei jedoch ein Problem, das alle Deutschen betrifft. „Heute wir, morgen ihr“ ist ein Slogan, der öfter skandiert wird.
Dank für die Luftangriffe
Am Mittwoch war es zu Jagdszenen in der Herforder Innenstadt gekommen. Islamisten hatten den Imbiss eines Jesiden gestürmt und zwei Menschen verletzt. Das Misstrauen ist groß. In sozialen Netzwerken kursierten Gerüchte, Salafisten wollten die Demonstration unterwandern. Auch bei der Demonstration am Freitag in Herford wurde getuschelt, dass bekannte Salafisten gesichtet worden seien.
Allen Widrigkeiten zum Trotz verläuft die Bielefelder Großdemo friedlich und farbenfroh. Neben der allgegenwärtigen Öcalan-Flagge wehen jesidische, kurdische, aramäische, assyrische, deutsche, antifaschistische und US-amerikanische Fahnen. Hier und dort sieht man Schilder mit der Aufschrift: „Thank you, Barack Obama“. Daneben prangen Schreckensbilder hungernder Kinder.
Ismihan Cengiz trägt ein Schild mit dem Bild eines lächelnden jungen Mannes. Es handelt sich um ihren Bruder Ahmed, er wollte seine Frau und seine Kinder nach Deutschland holen. Nun sitzt er seit Tagen in den Bergen der Sindschar-Region fest. Im Tal die Isis, in den Anhöhen der Hunger. Seit Freitag würde sie ihn nicht mehr erreichen, der Akku ist leer. „Das Lächeln ist verloren“, steht über dem Bild von Ahmed.
„Bigi Shingal – Es lebe Sindschar! Stoppt den Terror! Kindermörder Isis!“ Wie wirkt das auf Passanten? Einige scheinen irritiert, doch ein jeder, den man fragt, hält die Forderungen der Demonstranten für berechtigt. Erich Behrens, der sich das Treiben vom Bürgersteig anschaut, findet es gut, dass sie sich so couragiert zu Wort melden: „Wie viel sind es wohl? Hunderttausend?“ Die Polizei spricht von 6.000.
„Der größte Schabernack“
In erster Linie fordern die Demonstranten, dass das humanitäre Engagement der Bundesrepublik gestärkt wird. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat Ende der Woche mitgeteilt, die Bundesregierung würde ihre humanitäre Hilfe auf 2,9 Millionen Euro aufstocken. Waffenlieferungen für die Kurden stehen die meisten skeptisch gegenüber. Viele meinen, es seien bereits genug Waffen im Umlauf, gerade auch aus Deutschland. So würde die Bundesrepublik selbst Krieg produzieren, meint Servet Tekce. Auch Kathrin Vogler von den Linken kritisiert später diesen Umstand.
Als SPD-Politikerin Christina Kampmann bei der Abschlusskundgebung davon spricht, dass man die Regierungsbildung im Irak unterstützen müsse, sagt Poshya Zana: „Das ist ja wohl der größte Schabernack! Wie kann man denn abwarten, bis eine Regierung gebildet ist, wenn der Völkermord vor der Tür steht?“ Die Jura-Studentin ist in einer Gruppe aus Jesiden, Christen und Muslimen unterwegs. Die Grünen-Politikerin Sigrid Beer, die die Bildung eines Korridors zur Rettung der Flüchtlinge forderte, spreche ihr aus der Seele.
Tahsin berichtet, dass seine Familie bereits selbst die Initiative ergriffen habe. Sie würden versuchen, die Flüchtlinge aus den Bergen in ihr Dorf Kiwex an der türkischen Grenze zu holen. Sein Bruder Cahit erzählt, dass die Kinder im Sindschar-Gebirge schon versucht hätten, Steine zu essen, so hungrig seien sie.
Er selbst habe sich an diesem sonnigen Tag in Ostwestfalen bereits nach zwei Stunden nach Wasser gesehnt. Wie müssen sich erst die Menschen in den Bergen fühlen? Aus Angst vor Übergriffen hat er seine Frau und Kinder nicht mit nach Bielefeld gebracht. Erst kürzlich habe ein Arbeitskollege versucht, ihn und andere Kollegen zum Islam zu konvertieren. „Sonst passiert etwas Schlimmes“, habe dieser gedroht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen