■ Je weniger Russlands Politik eine Strategie für den Kaukasus hat, desto mehr entscheiden die Militärs, was dort geschieht: Der Kampf ums Öl
Es brodelt im Kaukasus. Klassische Geopolitik, die mit dem Niedergang der Sowjetunion schon fast ein überholtes machtpolitisches Konzept schien, erfährt in der bizarren Welt des Völkermosaiks zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer derzeit eine beunruhigende Neuauflage. Die restriktive und nivellierende Nationalitätenpolitik der UdSSR hatte siebzig Jahre lang fast vergessen lassen, dass die Region seit Menschheitsgedenken die Fantasien und Machtgelüste regionaler wie fremder Mächte aufs äußerste gereizt hatte. Als letzter Okkupator versuchte Hitler, ans Kaspische Meer vorzustoßen, um dessen vermutete Öl- und Gasressourcen auszubeuten, die die Sowjetunion nur rudimentär erschlossen hatte.
Der Ölrausch der 90er-Jahre weckte zunächst sagenhafte Hoffnungen und zog die USA in eine Region, an der sie noch zum Zeitpunkt des sowjetischen Zusammenbruchs kein Interesse gezeigt hatte. Die Reserven der Kaspisee und der mittelasiatischen Anrainerstaaten wurden anfangs auf ein Volumen von 200 Milliarden Fass geschätzt, was sie nach Saudi-Arabien zu den weltweit größten Lagerstätten gemacht hätte. Inzwischen hat sich Ernüchterung eingestellt. Der märchenhafte Reichtum scheint im nachhinein dem Wunschdenken der Amerikaner und Aserbaidschaner entsprungen zu sein, die damit aufwendige und kostspielige Transportrouten zu rechtfertigen suchten. Washington wertete vor drei Jahren den Kaukasus gar zu einer Region „nationalen und strategischen Interesses“ auf. Der ehemalige Sicherheitsberater Brzezinsky – mittlerweile in den Diensten eines Ölmultis – verknüpfte wirtschaftliches Interesse und Sendungsbewusstsein in der sibyllinischen Formel: „Wir sorgen für geopolitischen Pluralismus, wodurch die Schaffung eines modernen, demokratischen und postimperialistischen Russlands gefördert wird.“ Typisch für Russlands Außenpolitik: Erst die Präsenz der Amerikaner rief Moskau an der seit Jahrzehnten vernachlässigten Südflanke des Imperiums wieder auf den Plan. Nach dem Motto: Die Amerikaner sind da, also ist es wichtig.
Die außenpolitische Strategie der USA zielte von vornherein darauf ab, den Iran von dem Jahrhundertgeschäft auszuschließen, zumal er sich als regionale Ordnungsmacht zu etablieren versuchte und durch Annäherung an Moskau die internationale Isolation zu überwinden hoffte. Desgleichen sollte Russland, das seine Vorherrschaft in dieser Region als Naturrecht begreift, für immer hinter die Höhenzüge des Kaukasus verbannt werden. Es galt, langfristig das russische Gasmonopol aufzubrechen und die Abhängigkeit vom Öl aus dem Nahen Osten zu verringern.
Größtes Problem indes – die Transportrouten. Aus dem Röhrenmonopoly entwickelte sich ein neues geopolitisches Spiel: der kalte Frieden. Die einzige nutzbare Pipeline führte zunächst über Russland, von Baku zum Schwarzmeerhafen Noworossisk. Schon deshalb erinnerte Moskau an seine angestammte Vormachtrolle. Im April dieses Jahres wurde dann eine alternative Route ins georgische Supsa eröffnet. Damit gelang es den Staaten der GUUAM – Georgien, Ukraine, Usbekistan, Aserbaidschan und Moldawien – und ihren westlichen Sponsoren erstmals, das russische Monopol zu umgehen. Diese Woche soll nun endgültig der Vertrag über eine neue Pipeline in den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan unterzeichnet werden. Den Zuschlag erhielt Washingtons Bündnispartner am Bosporus mehr aus strategischen denn aus Wirtschaftlichkeitserwägungen. Die bisher eher diffusen russischen Verdrängungsängste lassen sich erstmals konkret benennen.
Es hat sich inzwischen eingebürgert, das Ringen um die Vorherrschaft im eurasischen Übergangsfeld und den Staaten Mittelasiens – vornehmlich Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan – mit dem Konkurrenzkampf der Kolonialmächte England und Russland im ausgehenden 19. Jahrhundert zu vergleichen. Die Analogie greift indes zu kurz. Heute geht es nicht mehr um koloniale Landgewinne wie zwischen Empire und Zarenreich. Vielmehr steht der wirtschaftliche Profit im Vordergrund. Überdies sind einige Staaten und Multis an der „großen Jagd“ mit beteiligt. Wohl entscheidender aber: die jungen Nachfolgestaaten des Sowjetimperiums, Aserbaidschan und Georgien, treten als selbstbewusste Akteure in Erscheinung.
Zunächst schienen auch in Moskau Interessenpluralität und Geschäftsdenken rein strategisch imperiale Motive zu neutralisieren. Inzwischen regiert einzig und allein wieder der geopolitische Reflex. Beleg ist das militärische Vorgehen in Tschetschenien. Oberflächlich besehen fügt sich der neue Konflikt lückenlos in die Logik des Ölpokers ein. Schließlich gefährdeten tschetschenische Islamisten, die im August in Dagestan einfielen, die Pipeline nach Noworossisk. Ein funktionsfähiger Staat muss reagieren. Tatenlosigkeit an der Südflanke Russlands könnte zudem Geldgeber des internationalen KTK-Pipeline-Projektes, das die kasachischen Tengis-Ölfelder mit Noworossisk verbinden soll und an der dagestanischen Nordgrenze entlangführt, zum Rückzug bewegen.
Warum aber handelt Moskau erst jetzt? Vor Desintegration des Nordkaukasus wird seit Jahren gewarnt. Ist das Versäumnis der allgemeinen Systemkrise zuzuschreiben? Nicht nur. Moskau besitzt kein Konzept für den Nordkaukasus und behandelt den Raum seit langem wie „inneres Ausland“. Wer aus dem Süden anreist, muss in Moskau schlimmere Prozeduren über sich ergehen lassen als manch Ausländer. Die völlige Zerstörung Tschetscheniens, Unterhalt einer Besatzungsarmee, der Bau einer Umgehungspipeline sowie die Notwendigkeit, ein Entwicklungsprogramm zu erstellen, um Nachbarregionen, die auch unter dem Krieg leiden, zu helfen, verlangen einen Aufwand von mehreren Milliarden Dollar. Russische Experten schätzen, dass die Kosten auf Jahre hinaus Einnahmen aus dem Transitgeschäft übersteigen dürften. Eine rationale Analyse liegt den Aktivitäten nicht zugrunde. Schon jetzt ist daher klar, die Region wird in die Vergangenheit gebombt, ohne Hoffnung auf Hilfe danach. Der Rückfall in imperialistische Verhaltensmuster scheint daher eine Antwort auf die bedrückende Perspektivlosigkeit zu sein. Orientierungslos ist denn auch das ideologische Begleitkonstrukt: So wird die „Gefahr aus dem Süden“ gemeinhin als „islamische Bedrohung“ verstanden. Gleichzeitig baut Moskau die Beziehungen zum Iran aus, rüstet die Ajatollahs auf, während russisch nationale Ideologen kongruente Wertvorstellungen zwischen dem antisäkularen Islam und der antiwestlichen russisch-orthodoxen Kirche entdecken, ja von einer strategischen Partnerschaft träumen. Die Widersprüche entziehen sich unterdessen dem öffentlichen Diskurs. Mit fatalen Konsequenzen: Die Verdrängung fördert dumpfe Ressentiments, wie es der finstere Hurra-Konsens im Tschetschenien-Krieg leider belegt.
Das Fehlen einer Strategie scheint inzwischen sogar Russlands Taktik gegenüber dem Cis- und Transkaukasus zu sein. An endgültigen Konfliktlösungen ist dort niemand gelegen. Eine Verständigung mit dem tschetschenischen Präsidenten Aslan Maskhadow hat der Kreml nicht einmal pro forma gesucht. Das brutale und kompromisslose Auftreten in Tschetschenien signalisiert den Nachbarn Georgien und Aserbaidschan unterdessen, dass der Kreml sich nicht kampflos zurückzieht. Um in den transkaukasischen Staaten für Unruhe zu sorgen, reichen die Kräfte. Wegen der ethnischen Minderheiten bietet jeder Kaukasusstaat eine leichte Angriffsfläche. Hinzu kommt die innere Schwäche der jungen Staatsgebilde, die ihr Territorium aus eigenen Kräften nicht kontrollieren können.
Gerade Russlands innenpolitisch desolater Zustand ist es, der die Gefahr einer militärischen Eskalation in der Region fördert. Zunehmend betreiben die Militärs, die die Schmach des Zusammenbruches der UdSSR nicht verarbeiten konnten, Politik in Eigenregie, die von Revanchegedanken und antiwestlichen Ressentiments getragen wird. Sie verkennen dabei, dass sich das machtpolitische Vakuum im Nordkaukasus nicht durch militärische Maßnahmen beseitigen lässt. Im Gegenteil, der Konflikt weitet sich immer mehr aus. So ist nicht nur Russslands fragile Demokratie bedroht, sondern es steht sogar die Existenz der letzten Kolonialmacht zur Disposition. Klaus-Helge Donath
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