Jazzalbum von Tomin Perea-Chamblee: Tomins minimalistische Melancholie
Aus Verbindung wird Vergänglichkeit – und umgekehrt: Tomin gibt sein Solodebüt mit einem Album voller eigenwilliger Jazz-Miniaturen.
Nie gehört. Doch wenn das US-Label International Anthem neue Musik präsentiert, kann man das guten Gewissens als Anlass für eine späte Siesta nehmen. 2014 gegründet, um die Szene der in Chicago ansässigen, aus dem Freejazz hervorgegangenen Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) abzubilden, war International Anthem von Anfang an bemüht, mehr als nur ein Jazzlabel zu sein.
Mittlerweile kommen auch etliche der Musiker:innen von anderswo. Wie etwa der 27-jährige Tomin Perea-Chamblee aus Brooklyn, der diverse Blech- und Holzblasinstrumente spielt. Während der Pandemie hatte er erste Songs in Eigeninitiative veröffentlicht, verrät das Internet; bis 2020 war er Teil des New Yorker Avantgarde-Kollektivs Standing On the Corner. Höre und staune, als welch besonderes Album sich „Flores …“ bald entpuppt! 24 schlichte und zugleich eigenwillige Miniaturen, die zum melancholisch-geschmeidigen Ganzen verschmelzen.
Die erste Hälfte der 37 Minuten hält Interpretationen von Jazzstandards, etwa Duke Ellingtons „Come Sunday“ und „Fables of Faubus“ aus der Feder von Charles Mingus bereit. Aber auch obskureres Material – gespielt von Tomin jeweils nur mit Trompete oder Klarinette. Bisweilen umtänzeln sich beide Instrumente an skelettierten Melodien.
Tomin: „Flores para Verene / Cantos para Caramina“, „A Willed and Conscious Balance“ (beide International Anthem/Nonesuch/Warner)
Gewidmet hat Tomin diese Interpretationen seiner Großmutter. Wie sehr ihn ihr Tod erschütterte, beschreibt er eindrücklich in den Linernotes. Zwei Jahrzehnte zuvor war sie in die USA gekommen, um sich um Tomin zu kümmern und seine Eltern zu entlasten.
Eigenkompositionen voller überraschender Schlenker
Die zweite Hälfte des Albums besteht aus ähnlich reduzierten Eigenkompositionen voller überraschender Schlenker. Der warme Bläsersound wird bisweilen durch Sinuswellen runtergekühlt, etwa in „Naima“. Tomin, im Brotberuf Bioinformatiker, versteht es offenbar, Kompositionen zu sezieren und aufs Wesentliche zu reduzieren. Aus Kompliziertem wird Einfaches, aus Verbindung Vergänglichkeit – und umgekehrt.
Noch mal kurz zurück nach Wrocław: Der Nachhall der Albumpräsentation setzt den Abend in ein neues Licht. Die Atmosphäre der Tracks scheint gemacht dafür, zur Blauen Stunde durch eine geschichtsträchtige Stadt zu radeln und sich beim Fremdsein irgendwie verloren und beschwingt zugleich zu fühlen.
Geknickt lassen mich die klanggewordenen Haikus allerdings nicht zurück, obwohl Tomin anlässlich der Albumveröffentlichung betont, er wolle „mit seiner Melancholie niemanden verschrecken“ – die Stimmungen des Albums seien jedoch vor allem „Ausdruck tiefer Trauer“.
Kontemplativ und eher introspektiv klingt auch Tomins „A Willed and Conscious Balance“, das nun, wenige Wochen später, erschienen ist. Und doch ist die Anmutung eine andere, hat der 27-jährige Musiker doch für das Album ein Ensemble um sich versammelt. Er selbst spielt hier zudem Flöte und Euphonium: Seit Ende der Highschool pflegt er die kleine Tradition, sich alle zwei, drei Jahre ein neues Instrument anzuschaffen.
Illustres Ensemble
Melancholisch ist die Anmutung des epischen und dabei schlurfend schlendernden „Untitled Dirge“. Getragen wird es maßgeblich von zwei Cellos und erinnert an einen Trauermarsch. Doch es stecken auch flirrende Grooves, ein munteres Vortasten oder psychedelisches Mäandern in dieser Musik, die mal orchestral, dann improvisatorisch nachhallt.
Aufgenommen hatte das illustre Ensemble – unter anderem mit einstigen Mitmusiker:innen der 2022 verstorbenen US-Jazztrompeterin Jaimie Branch – all das fast komplett an einem Tag vergangenen Februar. Man kann den Entstehungsprozess dieser Musik förmlich erlauschen. Und doch klingt das selten überfrachtet oder diffus, sondern sortiert sich vielmehr in Echtzeit. Fasziniernd!
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