Italien und die Seenotrettung: Der schleichende GAU

Italien lässt einige aus Seenot gerettete Flüchtlinge an Land. Ist die rechte Regierung unter Meloni also doch gar nicht so schlimm? Ein Irrtum.

Schiffsdeck mit rotem Rettungsring

Startbereit für den Einsatz im Mittelmeer: das deutsche Rettungsschiff „Sea-Watch 5“

Am 14. Tag nach ihrem Amtsantritt hat die neofaschistische Ministerpräsidentin Italiens, Giorgia Meloni, am Wochenende zum ersten Mal aus Seenot gerettete Flüchtlinge an Land gelassen. Das ist näher an der Praxis der vorigen italienischen Regierungen, als an einer kompletten „Seeblockade“ der NGO-Schiffe, von der Meloni im Wahlkampf gesprochen hatte. Wer ihren Wahlsieg für den Super-GAU für Flüchtlingsschutz und Migrantenrechte gehalten hatte, und nun denkt, so schlimm sei das rechtsextreme Regierungsbündnis ja doch nicht, irrt. Es ist andersherum: Der GAU ist schon zuvor eingetreten, und zwar schleichend.

Auch ihre Vorgänger, die Regierungen der Mitte-Politiker Conte und Draghi, hatten Schiffen mit Hunderten Menschen in erbärmlicher Verfassung wochenlang die Einfahrt in Häfen verweigert. Damals wie heute versucht Italien, Menschen wieder nach Libyen bringen zu lassen. Und damals wie heute verschleppt es Rettungen durch die eigene Küstenwache, wo Eile geboten wäre oder rettet schlicht nicht, wo es müsste.

Ob die Meloni-Regierung nicht noch weiter dicht macht, weiß niemand. Und es gibt einen Unterschied zu ihren Vorgängern: Am Wochenende durften nur besonders Kranke an Land gehen, die „Gesunden“ mussten an Bord bleiben. Diese Praxis ist nicht neu. Doch während solcherlei Selektion von Geflüchteten früher willkürlich und ungeregelt stattfand, geschieht sie unter Melonis Regierung auf Grundlage eines offiziellen Dekrets.

Schon seit Jahren missachtet Italien im Umgang mit den Mi­gran­t:in­nen auf dem Meer immer wieder das Recht. Und das ist mitnichten eine italienische Besonderheit. Malta handelt nicht anders, auch in anderen EU-Staaten lassen sich Beispiele für ähnliche Praktiken finden. Sterben lassen, wem geholfen werden könnte, als Mittel der Politik einzusetzen – das ist schon länger nichts, was nur Rechtsextreme auszeichnet.

Abgedriftete politische Kultur

Wenn nun also eine Regierung mit offenen, positiven Bezügen zum Faschismus ähnlich agiert wie ihre Vorgänger, dann zeigt dies deshalb nicht, dass diese moderat ist. Es zeigt vielmehr, wie weit die politische Kultur bereits zuvor abgedriftet ist, wie weit sich moralische Standards von humanitären Selbstverständlichkeiten entfernt hatten.

Die aktuelle, extrem rechte Regierung wird in der Zukunft möglicherweise noch weiter gehen. Sie könnte versuchen auszutesten, was die Justiz ihr durchgehen lässt. Doch das macht nicht besser, dass die politische Mitte aus Angst vor den Populisten deren Vorstellungen immer weiter aufgegriffen hatte. Einmal an der Macht, müssen sie nun gar nicht mehr so viel anders machen. Auch das ist eine Form der Normalisierung, vor der so viel gewarnt wird.

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Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social

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