Ist Lena Pop oder Schlager?: Bienen, Raupen & Professor Higgins
Fast ganz Deutschland staunt über die Diplomaten-Enkelin Lena. Aber ist das, was die Grandprix-Gewinnerin macht, auch genuin Pop oder doch bloß Raabscher Schlager?
![](https://taz.de/picture/309680/14/lena_05.jpg)
Um "The rain in spain stays mainly in the plain" in BBC-Englisch auszusprechen, muss man tüchtig üben. Eliza Doolittle weiß mindestens ein Lied davon zu singen: An ihren Anstrengungen, den Cockney-Dialekt abzulegen, der sie als ungebildete East-End-Londonerin identifiziert, hangelt sich im Musical "My fair lady" die Handlung entlang. Am Ende schafft Eliza den Sprung in die fürnehme Gesellschaft, und ihr Mentor und Sprachtrainer Henry Higgins freut sich ein zweites Loch in den Bauch.
Was würde Professor Higgins wohl über Lena Meyer-Landrut denken. Die das englische Idiom nicht Ende des 19. Jahrhunderts auf den dreckigsten Straßen Londons, sondern vor ein paar Jahren an der "Integrierten Gesamtschule Roderbruch" in Hannover erlernt hat. Die nicht für ein paar Pence Blumen verkauft, sondern Abitur macht. Denn das Augenscheinlichste an Lenas Debütalbum "My Cassette Player", das in den gefühlten drei Minuten zwischen dem ersten Lena-Auftritt und der Eurovisions-Sause letzten Samstag herauskam, ist dieser Akzent. Lena singt "dai" wenn sie "day" meint, "aas" wenn sie "as" meint, "bou" wenn sie "but" meint.
Als ob Michael Caine ihr beim Texten auf die Schulter geklopft hätte. Dabei haben das Kate Nash und Lily Allen übernommen. Die beiden Popstars sind in Lenas Alter, haben die gleichen verwuschelten Haare, die gleiche, zart-freche Mädchentonlage, und Kate Nash singt auch wie Lena. Nur waren sie schon vorher da und stammen tatsächlich aus London. Außerdem kommen sie nicht aus dem Song-Contest-Umfeld, das sich selbst an SchlagerhasserInnen gefährlich nah heranwürmt: Seit wann ist der Song Contest überhaupt musikalisch bedeutsam? Und wieso steht der biedere Sangeswettbewerb, der ursprünglich nur für die Fernsehquote erfunden worden war, nun als Medienhype auf einer Stufe mit der WM?
Zur Definition hat Lena ihren Mentor Stefan Raab, den Fleischereihandwerkssohn, der weiß, wie man den schmalen Grat zwischen dem eingeschränkten deutschen Grooveverständnis, Mainstreampop und Pseudo-Individualität entlangtanzt. Raabs Konzept für Lenas Debütalbum ist effektiv. 1. Im Rahmen groovy sein: Das Titelstück "My Cassette Player" ist nicht schwarzen Dancehall-Rhythmen verhaftet wie Seeed oder Culcha Candela, sondern Motown-orientiert wie Amy Winehouse. "Not following" oder "I just want your kiss" spielen mit dem weißen Kuschelreggae früher Police-Songs. 2. Authentisch sein: Lena hat die Texte fast aller Songs mitgeschrieben und schön viele Cockney-"dais" und "aas" hineingetextet, viel "wenn du mich liebst, lieb ich dich auch", viel frei sein wie eine Biene ("Bee"), auch mal traurig sein wie eine Raupe im Regen ("Caterpillar in the Rain"), viel Träumen und selbstbewusste Traumerfüllung ("You cant stop me"), 3. Glockenspiel und süße Sprechparts, um sich nicht zu weit von den erprobten Formaten Nash und Allen zu entfernen, und 4. ab und an ein Big-Band-Arrangement, damit jede taube Nuss merkt, dass jetzt der Part zum Mitwippen kommt.
Das ist konsequent: Seit Jahren werden Popstars nicht mehr Popstars, weil sie eine Art von Musik bevorzugen oder herstellen, sondern weil sie Popstars sein wollen. Auf diese Weise kann Robbie Williams abwechselnd Balladen und seichte Rocksongs singen, deren einziges Merkmal seine Stimme ist. Raab weiß, dass Popstars Interpreten sind, vor allem, wenn sie in Nullkommanichts an die Oberfläche gespült werden. Lenas Interpretationsqualität ist die eines natürlichen, frechen, "gesund" selbstbewussten (das "gesund" ist wichtig bezüglich der Abgrenzung von Frauen wie Dita von Teese, deren selbstbestimmtes artifiziell-nerdiges Pin-Up-Image als Bedrohung empfunden werden kann) Frolleins.
Eins, das die Romantik hinter einer großen Klappe nicht besonders gut versteckt und gegen das die Schwiegereltern nichts einwenden können. Lena ist zu jung, um einen Standpunkt zu Pop-, Popdiskurs- und popfeministischen Thesen zu haben, die einem bei der Auseinandersetzung mit dem Medienhype Lena hochkommen. Sie ist tatsächlich so, wie Raab sie zeigt, findet nichts dabei, einen falschen Unterschichtsakzent zu benutzen, ist kein Mäuschen und erst recht keine Katze. "My Cassette Player" ist das - bis auf die Stimme - konturlos-swingende Debüt eines wirklich netten jungen Dings. Spannend wird es, sollte Lena sich tatsächlich mal musikalisch in eine Richtung wenden. Dann wird man sehen, ob sie ihren Professor Higgins noch braucht.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Überraschung bei U18-Wahl
Die Linke ist stärkste Kraft
RTL Quadrell
Klimakrise? War da was?
Ukraine-Verhandlungen in Saudi-Arabien
Wege und Irrwege aus München
Verlierer der Wahlrechtsreform
Siegerin muss draußen bleiben