Israels Taktik der gezielten Tötungen: Vergeltung für jeden Angriff
Diejenigen zu töten, die Terror gegen Israelis planen und ausführen, ist keine neue Taktik. Zahlt Israel dafür langfristig einen zu hohen Preis?
Noch sind die genauen Umstände des Todes von Salah al-Aruri am Dienstag im Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut nicht geklärt. Doch bezweifelt kaum jemand, dass Israel für das Attentat verantwortlich ist. Die Nummer zwei der Hamas-Führung sei bei einem „hinterhältigen israelischen Angriff“ gestorben, erklärte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bei einer Rede am Mittwoch. Bekannt hat sich Israel zu dem mutmaßlich per Drohne erfolgten Angriff bisher nicht.
Gezielte Tötungen gehören seit Jahrzehnten zum Repertoire israelischer Geheimdienste und Sicherheitsbehörden. Der Ruf des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad beruht nicht zuletzt auf einer Reihe von spektakulären Attentaten und Entführungen, darunter die Festnahme des Naziverbrechers Adolf Eichmann in Argentinien 1960 oder der Mord an dem Waffenhändler Gerald Bull 1990, der für den irakischen Diktator Saddam Hussein Geschütze bauen wollte.
Nachdem die Hamas bei ihrem beispiellosen Überfall am 7. Oktober rund 1.200 Menschen in Israel ermordete, hatte die israelische Führung gewarnt: Die Drahtzieher des Angriffs sollen sich an keinem Ort der Welt mehr sicher fühlen. Der Angriff auf al-Aruri in Beirut zeigt, dass die Warnung wohl ernst zu nehmen war. Ein hoher US-Beamter ließ laut einem Bericht der New York Times durchblicken: „Das ist erst der Anfang, es wird Jahre so weitergehen.“
Doch der Angriff wirft auch Fragen auf: Droht ein solches Vorgehen die Region weiter zu destabilisieren? Bringt es Israel mehr Sicherheit? Und ist es überhaupt zulässig und legitim?
Angriff auf ein militärisches Ziel in einem verfeindeten Land
Al-Aruri hatte als Vizechef innerhalb der Hamas ein offiziell eher politisches Amt und befand sich in Beirut zudem weitab der Kampfhandlungen. Israel wirft dem Mitgründer der Kassam-Brigaden aber vor, Raketenangriffe aus dem Libanon sowie Terroranschläge und Entführungen im Westjordanland koordiniert zu haben. Für die Hamas dürfte sein Tod militärisch Konsequenzen haben, sagt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze von der Universität Bern. „Wegen seiner engen Beziehungen zur Hisbollah und zu den iranischen Revolutionsgarden könnte er nur von jemandem ersetzt werden, der das Vertrauen aller Seiten genießt.“
Die USA hatten ein Kopfgeld in Höhe von fünf Millionen Dollar auf al-Aruri ausgesetzt, der auch an der Entführung und Ermordung dreier Teenager im Westjordanland 2014 beteiligt gewesen sein soll. „Moralisch sehe ich kein Problem“, sagt der Militärhistoriker Danny Orbach von der Hebräischen Universität in Jerusalem. „Juristisch war es ein Angriff auf ein militärisches Ziel in einem verfeindeten Land.“
Gezielte Tötungen gehören zu den umstrittensten Mitteln, die demokratische Staaten einsetzen können. Dabei, so schreibt der israelische Journalist und Geheimdienstexperte Ronen Bergman in seinem Buch „Der Schattenkrieg“, habe kein anderer westlicher Staat dieses Mittel in den vergangenen Jahrzehnten häufiger genutzt als Israel.
Alleine zwischen dem Ende der zweiten Intifada Mitte der 2000er Jahre bis 2018 gab es demnach mehrere hundert solcher Operationen. Der Großteil habe während der regelmäßigen Auseinandersetzungen zwischen der israelischen Armee sowie der Hamas und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad in Gaza (2008, 2012, 2014) stattgefunden. Außerdem habe der Mossad immer wieder Angriffe auf palästinensische, syrische und iranische Ziele in der arabischen Welt ausgeführt. Zum Vergleich: Während der Präsidentschaft von George W. Bush sollen die USA 48 solche Operationen umgesetzt haben, unter Obama seien es 353 gewesen.
Operation Zorn Gottes
Als Mittel zur Verteidigung und zur Durchsetzung der eigenen Ziele ließen sich gezielte Tötungen bis in die jüdischen Untergrundorganisationen verfolgen, die vor der Staatsgründung 1948 im britischen Mandatsgebiet Palästina aktiv waren, sagt Orbach. „In den frühen Jahren Israels, als Infiltrationen und Anschläge aus den benachbarten arabischen Staaten an der Tagesordnung waren, hat sich dieses Mittel etabliert.“
Israels erster Regierungschef David Ben-Gurion fasste es noch 1969 düster zusammen: „Wir müssen ihnen zeigen, dass das Blut (jüdischer Israelis) nicht billig ist.“ Aus der Erfahrung zahlreicher Pogrome und des Holocausts sowie der Tatsache, dass der jüdische Staat auch Jahre nach seiner Gründung noch nicht über die Mittel verfügte, seine Bürger effektiv zu schützen, habe sich die Doktrin entwickelt, für jeden Angriff Vergeltung zu üben, sagt Orbach.
Erstmals massiv gegen Palästinenser eingesetzt wurden gezielte Tötungen nach dem Münchner Olympia-Attentat im September 1972. Damals wurden während einer Geiselnahme durch palästinensische Terroristen elf israelische Sportler sowie ein Polizist getötet. Der Mossad stellte, autorisiert von Regierungschefin Golda Meir, die Sondereinheit „Caesarea“ auf.
Noch im Oktober erwarteten Agenten den Vertreter der palästinensischen Befreiungsorganisation PLO in Italien, Abdel Wael Zwaiter, vor seiner Wohnung in Rom und erschossen ihn mit zwölf Kugeln. Kurz darauf wurde der PLO-Repräsentant in Paris, Mahmud Hamshari, von einer in seinem Telefonhörer versteckten Bombe getötet. Insgesamt töteten israelische Agenten und Spezialeinheiten im Rahmen der „Operation Zorn Gottes“ einen der überlebenden Terroristen sowie zwölf mutmaßlich an der Planung des Attentats Beteiligte in Europa und im Nahen Osten. Dabei kamen auch mehrere Unschuldige ums Leben. Die Operation könnte laut Orbach als Blaupause für den Angriff auf al-Aruri und mögliche weitere Attentate dienen.
Beirut ist wichtigstes Hamas-Machtzentrum außerhalb Gazas
Ihren Höhepunkt erreichte die Praxis der gezielten Tötungen während der zweiten Intifada, des palästinensischen Volksaufstands Anfang der 2000er Jahre vor dem Hintergrund einer beispiellosen Welle von Terroranschlägen auf israelische Zivilisten. Das System gezielter Tötungen war laut Orbach zu „einer gut geölten Maschine“ geworden. Binnen fünf Jahren wurden mehrere hundert Mitglieder palästinensischer Organisationen und Terrorverdächtige gezielt getötet.
2005 beschloss ein Kabinettsausschuss der israelischen Regierung unter Ariel Scharon mit Aussicht auf einen neuen Friedensprozess, auf gezielte Tötungen zu verzichten. Danach seien sie auch im Ausland zurückgegangen, haben aber keineswegs aufgehört, sagt Orbach. Das zeigten Attentate auf Wissenschaftler des iranischen Atomprogramms oder der Mord an Mohammed al-Mabhuh in dessen Hotelzimmer 2010 in Dubai, die Israel zugeschrieben werden. Al-Mabhuh gilt als Mitbegründer der Kassam-Brigaden, des bewaffneten Arms der Hamas.
Theoretisch ist die Liste der potenziellen Ziele für weitere Attentate lang: Ganz oben stehen Jahja Sinwar und Mohammed Deif, die die Hamas und deren Kassam-Brigaden im Gazastreifen leiten und die Hauptverantwortung für den 7. Oktober tragen dürften. Der Großteil der Hamas-Führung aber lebt außerhalb des Gazastreifens. Im katarischen Doha sitzt die offizielle politische Führung um Hamas-Chef Ismail Hanijeh und Chalid Maschal. Sie gelten als offen für Verhandlungen. In Beirut hingegen existiert um Osama Hamdan und den getöteten al-Aruri ein radikalerer Flügel. „Doha ist zwar weiter für die Außenbeziehungen zuständig“, sagt Islamwissenschaftler Reinhard Schulze. „Beirut aber hat sich zunehmend zum wichtigsten Machtzentrum außerhalb von Gaza entwickelt.“
Auch die Doha-Gruppe müsse mit ähnlichen Aktionen rechnen, sagt Schulze. Ronen Bar, der Chef von Israels Inlandsgeheimdienst Schin Bet, hatte gedroht, Hamas-Anführer auch in der Türkei und in Katar ins Visier zu nehmen. Solange aber noch mehr als 130 Geiseln in Gaza festgehalten würden, sei Katar als Kommunikationskanal für Freilassungen wichtig. Mit der Türkei wiederum verbindet Israel trotz eisiger Beziehungen ein großes Handelsvolumen. Aktuell sind dort laut Orbach öffentlich keine ausreichend wichtigen Zielpersonen bekannt, um diese Verbindung zu riskieren.
Der moralische Preis und die Grenzen der Methode
Wiegt der Nutzen solcher Tötungen das immense Risiko einer Ausweitung des Krieges in der Region auf? In der Vergangenheit sind zahlreiche Hamas-Anführer bei israelischen Attentaten getötet worden, darunter ihr Gründer Scheich Ahmad Jassin. Dennoch wurde die Organisation über die Jahre immer stärker und genießt auch heute unter Palästinensern viel Unterstützung.
Geheimdienstexperte Ronen Bergmann lässt diese Frage in einem Podcast im Mai 2023 offen: Taktisch gebe es gute Gründe für das Mittel der gezielten Tötungen. Doch die Professionalität, die Israels Geheimdienste in diesem Feld entwickelt haben, dürfe nicht über den moralischen Preis und die Grenzen der Methode hinwegtäuschen.
Viele israelische Politiker seien im Laufe der Jahrzehnte zu der gefährlichen Einschätzung gelangt, der Mossad habe die Macht, jede Bedrohung aus dem Weg zu räumen. „Sie haben nicht verstanden, dass es ein Limit gibt, bis zu dem sich Probleme mit Gewalt lösen lassen, und dass man seinem Gegner mitunter mit Dialog und Diplomatie begegnen muss.“ Andernfalls laufe Israel Gefahr, auf taktischer Ebene große geheimdienstliche Erfolge zu feiern und dennoch langfristig und strategisch katastrophal zu scheitern.
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