Israels Offensive im Westjordanland: Tausende fliehen aus Dschenin-Camp
Mit der größten Militäraktion seit Jahren geht Israel gegen Militante im Westjordanland vor. Dienstag dauerte der Einsatz an, die Zahl der Toten steigt.
Während mehrere tausend palästinensische Bewohner*innen das sogenannte Flüchtlingslager von Dschenin – ein dicht besiedelter Stadtteil – verließen, war das israelische Militär weiter präsent in dem Gebiet. „Es gibt keine Ecke des Flüchtlingslagers, die wir nicht erreicht haben“, teilte ein Militärsprecher mit. Der Stadtteil ist eine Hochburg militanter Palästinenser*innen.
Verschiedenen Quellen zufolge haben 3.000 Bewohner*innen das Gebiet bereits verlassen. Es werde versucht, die Menschen in Schulen und anderen Unterkünften in der Stadt unterzubringen, erklärte der Vize-Gouverneur von Dschenin, Kamal Abu al-Rub.
Am Montag waren nach Drohnenangriffen Bodentruppen in rund 100 Militärfahrzeugen in die Stadt vorgerückt. Mehr als 1.000 Soldaten sollen beteiligt gewesen sein. Bei der Operation wurden bislang zehn Palästinenser*innen getötet und rund 100 verletzt. Laut palästinensischem Gesundheitsministerium sind die Verletzungen in zwanzig Fällen kritisch, hieß es am Dienstag.
Während bei vergangenen Militäraktionen im Westjordanland regelmäßig auch Zivilist*innen getötet wurden, ist Genaueres über die Getöteten in der Dschenin-Offensive zunächst nicht bekannt. Laut israelischen Medien sollen mehrere Kämpfer darunter sein.
Machtvakuum in Dschenin
Nach Angaben des israelischen Militärs galten die Angriffe der Infrastruktur militanter Gruppen in Dschenin. Ziel sei es zudem gewesen, Waffen zu beschlagnahmen und zu zerstören. Ein Sprecher der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) bezeichnete die Operation dagegen als „neues Kriegsverbrechen gegen unser wehrloses Volk“.
Dschenin ist eine Hochburg des militanten palästinensischen Kampfes gegen die Besatzung des Westjordanlands. Nach Angaben von Sicherheitsexperten übt die PA in Dschenin anders als in Städten wie Ramallah kaum noch Kontrolle aus. Das Machtvakuum füllen verschiedene militante Gruppen aus – darunter Hamas und Islamischer Dschihad aus dem Gazastreifen, aber auch neue lokale Gruppen wie Katibat Dschenin.
Die Militanten sind vor allem in dem Flüchtlingslager aktiv, in dem rund 17.000 Menschen auf engstem Raum leben. Die Flüchtlingslager im Westjordanland sind schon lange keine Zeltlager mehr, sondern meist ärmlichere Stadtteile, in denen viele palästinensische Familien leben, deren ältere Mitglieder oder Vorfahren 1948 im Zuge der Staatsgründung Israels ihre Heimatdörfer verlassen mussten.
Die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa berichtete, das Militär habe Straßen blockiert, Häuser und Gebäude eingenommen und auf Dächern Scharfschützen platziert. Außerdem habe das Militär in weiten Teilen des Gebiets die Stromversorgung gekappt. Palästinensische Kämpfer beschossen die Militärs, es kam zu heftigen Gefechten. Laut israelischem Militär wurde in dem Stadtteil ein zentraler Kontrollraum zerstört, von dem aus verschiedene militante Gruppen ihre Aktionen koordiniert hätten.
Möglicherweise handelt es sich bei den Angriffen um den Beginn einer größeren israelischen Offensive im Westjordanland. Nachdem palästinensische Angreifer in den vergangenen Wochen immer wieder Israelis in Israel sowie israelische Siedler im Westjordanland attackiert hatten, forderten vor allem rechte Minister und Abgeordnete in Israel eine großangelegte Anti-Terror-Offensive. Aus Sicherheitskreisen verlautete am Montag jedoch, der Einsatz könne auch innerhalb weniger Stunden oder Tage beendet sein.
Drohungen aus Gaza
Wie zu erwarten, reagierten auch Hamas und Islamischer Dschihad im Gazastreifen auf die Entwicklungen im Westjordanland. „Dschenin bleibt das Symbol des Kampfes gegen die Besatzung“, hieß es vonseiten des Dschihads. Alle Optionen seien auf dem Tisch. Bis Dienstagvormittag deutete jedoch nichts darauf hin, dass die Organisationen nun ihrerseits Israel aus Gaza heraus angreifen würden.
Seit Jahreswechsel wurden mehr als 140 Palästinenser*innen bei israelischen Militäreinsätzen wie der jüngsten Offensive, bei Konfrontationen mit Soldat*innen oder nach eigenen Anschlägen erschossen. Im gleichen Zeitraum töteten palästinensische Angreifer mehr als zwei Dutzend Menschen. Zuletzt hatten auch israelische Siedler verstärkt palästinensische Ortschaften angegriffen, teils mit Rückendeckung von Mitgliedern der israelischen Regierung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“