Israels Offensive im Westjordanland: Tausende fliehen aus Dschenin-Camp
Mit der größten Militäraktion seit Jahren geht Israel gegen Militante im Westjordanland vor. Dienstag dauerte der Einsatz an, die Zahl der Toten steigt.
Berlin taz | Es ist eine neue Qualität, die der israelisch-palästinensische Konflikt im Westjordanland erreicht: Nachdem Israel mit rund einem Dutzend Luftangriffen – den schwersten seit mehr als 15 Jahren im Westjordanland – am Montag Ziele in der palästinensischen Stadt Dschenin angegriffen hatte, dauerte die Offensive am Dienstag an.
Während mehrere tausend palästinensische Bewohner*innen das sogenannte Flüchtlingslager von Dschenin – ein dicht besiedelter Stadtteil – verließen, war das israelische Militär weiter präsent in dem Gebiet. „Es gibt keine Ecke des Flüchtlingslagers, die wir nicht erreicht haben“, teilte ein Militärsprecher mit. Der Stadtteil ist eine Hochburg militanter Palästinenser*innen.
Verschiedenen Quellen zufolge haben 3.000 Bewohner*innen das Gebiet bereits verlassen. Es werde versucht, die Menschen in Schulen und anderen Unterkünften in der Stadt unterzubringen, erklärte der Vize-Gouverneur von Dschenin, Kamal Abu al-Rub.
Am Montag waren nach Drohnenangriffen Bodentruppen in rund 100 Militärfahrzeugen in die Stadt vorgerückt. Mehr als 1.000 Soldaten sollen beteiligt gewesen sein. Bei der Operation wurden bislang zehn Palästinenser*innen getötet und rund 100 verletzt. Laut palästinensischem Gesundheitsministerium sind die Verletzungen in zwanzig Fällen kritisch, hieß es am Dienstag.
Während bei vergangenen Militäraktionen im Westjordanland regelmäßig auch Zivilist*innen getötet wurden, ist Genaueres über die Getöteten in der Dschenin-Offensive zunächst nicht bekannt. Laut israelischen Medien sollen mehrere Kämpfer darunter sein.
Machtvakuum in Dschenin
Nach Angaben des israelischen Militärs galten die Angriffe der Infrastruktur militanter Gruppen in Dschenin. Ziel sei es zudem gewesen, Waffen zu beschlagnahmen und zu zerstören. Ein Sprecher der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) bezeichnete die Operation dagegen als „neues Kriegsverbrechen gegen unser wehrloses Volk“.
Dschenin ist eine Hochburg des militanten palästinensischen Kampfes gegen die Besatzung des Westjordanlands. Nach Angaben von Sicherheitsexperten übt die PA in Dschenin anders als in Städten wie Ramallah kaum noch Kontrolle aus. Das Machtvakuum füllen verschiedene militante Gruppen aus – darunter Hamas und Islamischer Dschihad aus dem Gazastreifen, aber auch neue lokale Gruppen wie Katibat Dschenin.
Die Militanten sind vor allem in dem Flüchtlingslager aktiv, in dem rund 17.000 Menschen auf engstem Raum leben. Die Flüchtlingslager im Westjordanland sind schon lange keine Zeltlager mehr, sondern meist ärmlichere Stadtteile, in denen viele palästinensische Familien leben, deren ältere Mitglieder oder Vorfahren 1948 im Zuge der Staatsgründung Israels ihre Heimatdörfer verlassen mussten.
Die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa berichtete, das Militär habe Straßen blockiert, Häuser und Gebäude eingenommen und auf Dächern Scharfschützen platziert. Außerdem habe das Militär in weiten Teilen des Gebiets die Stromversorgung gekappt. Palästinensische Kämpfer beschossen die Militärs, es kam zu heftigen Gefechten. Laut israelischem Militär wurde in dem Stadtteil ein zentraler Kontrollraum zerstört, von dem aus verschiedene militante Gruppen ihre Aktionen koordiniert hätten.
Möglicherweise handelt es sich bei den Angriffen um den Beginn einer größeren israelischen Offensive im Westjordanland. Nachdem palästinensische Angreifer in den vergangenen Wochen immer wieder Israelis in Israel sowie israelische Siedler im Westjordanland attackiert hatten, forderten vor allem rechte Minister und Abgeordnete in Israel eine großangelegte Anti-Terror-Offensive. Aus Sicherheitskreisen verlautete am Montag jedoch, der Einsatz könne auch innerhalb weniger Stunden oder Tage beendet sein.
Drohungen aus Gaza
Wie zu erwarten, reagierten auch Hamas und Islamischer Dschihad im Gazastreifen auf die Entwicklungen im Westjordanland. „Dschenin bleibt das Symbol des Kampfes gegen die Besatzung“, hieß es vonseiten des Dschihads. Alle Optionen seien auf dem Tisch. Bis Dienstagvormittag deutete jedoch nichts darauf hin, dass die Organisationen nun ihrerseits Israel aus Gaza heraus angreifen würden.
Seit Jahreswechsel wurden mehr als 140 Palästinenser*innen bei israelischen Militäreinsätzen wie der jüngsten Offensive, bei Konfrontationen mit Soldat*innen oder nach eigenen Anschlägen erschossen. Im gleichen Zeitraum töteten palästinensische Angreifer mehr als zwei Dutzend Menschen. Zuletzt hatten auch israelische Siedler verstärkt palästinensische Ortschaften angegriffen, teils mit Rückendeckung von Mitgliedern der israelischen Regierung.
Leser*innenkommentare
Chris Ehl
"Zuletzt hatten auch israelische Siedler verstärkt palästinensische Ortschaften angegriffen, teils mit Rückendeckung von Mitgliedern der israelischen Regierung." man darf erweitern eben so mit IDF, denn diese ist außerhalb der isr. Grenzen nämlich auch für die Israelis zuständig! Nur leider haben die die Augen nur gegen Palästinenser gerichtet. Da übersieht man den Balken vor dem eigenen Auge...bis das nächste Video (und es brauch erst das nächste Video, weil sonst keine kritische Selbstüberprüfung initiiert wird!) wieder zeigt, hmm, in anderen Fällen wären das Menschenrechtsverletzungen. So sind es nur ein paar Menschen..mit einem nichtisraelischen Pass....
Diskriminierung und Rassismus einmal anders.
31841 (Profil gelöscht)
Gast
Israel wird sich wegen der Sackgasser der gegenseitigen Eskalation in einen anderen Staat verwandeln. Wer wollte jemals einen solchen? Sie können wegen des eigenen Anteils an der Eskalation keine Lösung finden, um aus der Spirale einen Ausweg zu finden.
Mohammed Wasiri
Militante IST genau wer? Sowas wie in türkeisprech terroristen? Oder gar einfach ein ganzes Volk dem man seit 80 Jahren jedes Recht verwehrt? Das wäre dann ein Krieg.
Kölner Norden
@Mohammed Wasiri Ich habe mich auch etwas über die Bezeichnung "Militante" gewundert. Im normalen Sprachgebrauch sind Menschen, die gegen eine Besatzungsmacht kämpfen "Widerstandskämpfer". Das schließt natürlich die Ansicht ein, dass der Widerstand legitim ist, was in deutschen Medien großenteils in Frage gestellt wird. Friedliche Widerstanskämpferinnen werden manchmal als "Aktivistinnen" bezeichnet, was wohl eine neutrale Haltung der Journalistinnen in dem Konflikt präsentieren soll (?).