Israelische Soldaten über Gaza-Krieg: "Neue Kriegsregeln geschrieben"
Gegenüber dem britischen "Independent" gestehen Soldaten ein: Zivilisten wurden im Gaza-Krieg größeren Risiken ausgesetzt, um das Leben der Militärs zu schützen
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JERUSALEM taz | Bei dem Versuch von Israels Regierung, das Militär reinzuwaschen, wollen neun Monate nach dem Gazakrieg nicht mehr alle Soldaten mitmachen. "Wir haben für Gaza neue Kriegsregeln geschrieben", gab ein hoher Offizier gegenüber dem britischen Independent zu. Palästinensische Zivilisten seien "größeren Gefahren ausgesetzt worden, um das Leben der Soldaten zu schützen".
Den Aussagen des Offiziers zufolge hat sich die Armee in Gaza nicht mehr an das Prinzip der "Mittel und Absicht" eines feindlichen Ziels gehalten. Danach muss ein Verdächtiger sowohl eine Waffe halten als auch erkennbar die Absicht verfolgen, sie zu benutzen, bevor auf ihn geschossen werden darf. Ein zweiter Soldat bestätigte gegenüber dem Independent, dass nach den schweren Verlusten im Libanonkrieg zweieinhalb Jahre zuvor das Risiko für die Soldaten während der Gaza-Invasion "praktisch gleich null" gewesen sei.
Schon im vergangenen Sommer hatte die von israelischen Soldaten gegründete Initiative "Das Schweigen brechen" eine Dokumentation mit Zeugenaussagen veröffentlicht, die bestätigt, dass für die Soldaten im Gazastreifen eine veränderte Befehlslage galt. "Im Grunde reichte es für die palästinensischen Zivilisten aus, sich in einer Kampfzone zu befinden, um damit ihr Leben zu riskieren", resümiert Michael Menkin von "Das Schweigen brechen". Die Armee hatte die Zivilbevölkerung in der Regel vor Angriffen gewarnt. Doch die Leute wussten oft nicht mehr, wohin sie fliehen sollten.
"Das moralische Verständnis ist, dass der Soldat größere Risiken auf sich nehmen muss als die Zivilisten", sagt Menkin und räumt ein, dass das Prinzip von "Mittel und Absicht" in der Praxis nicht immer anzuwenden ist. "Wenn die Armee sagen würde, dass die westlichen Werte und Normen im Nahen Osten nicht umgesetzt werden können, dann müssen wir darüber reden, aber so ist es nicht", sagt Menkin. "Israel will zur demokratischen Welt gehören und gleichzeitig anders kämpfen."
Mit großer Verspätung will Regierungschef Benjamin Netanjahu jetzt doch eine unabhängige Untersuchungskommission einsetzen, wie es der südafrikanische Richter Richard Goldstone in seinem von den UN in Auftrag gegebenen Bericht von Israel und von den Palästinensern gefordert hatte. Dass es ein Fehler war, nicht von vornherein mit der UN-Kommission zu kooperieren, räumt jetzt auch die frühere Chefin der militärischen Abteilung für internationales Recht, Oberst Pnina Scharvit-Baruch, ein. SUSANNE KNAUL
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