Israelische Künstlerin Ruth Patir: Die Last des weiblichen Körpers
Die feministische Saga „(M)otherland“ der Künstlerin Ruth Patir wurde wegen des Gazakriegs nicht öffentlich gezeigt. Nun wird sie doch ausgestellt.
Als die 60. Kunstbiennale von Venedig letzten November zu Ende ging, hatte eine vollständig installierte Ausstellung nie eröffnen können. Der israelische Pavillon, der rund um die Uhr von der Polizei bewacht werden musste, blieb tragischerweise während der gesamten sieben Monate der Biennale für das Publikum unzugänglich.
Tragisch ist es aus mehreren Gründen, wobei wohl der schwerwiegendste ist, dass zwischen der israelischen Regierung und Vertretern der Hamas und des Islamischen Dschihad kein Abkommen über einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln zustande kommen konnte. Hätte es ein solches Abkommen gegeben, hätte die Künstlerin Ruth Patir die Ausstellung eröffnet, wie sie und die Kuratorinnen Mira Lapidot und Tamar Margalit erklärt hatten.
Tragisch ist auch, dass mit Patirs „(M)otherland“ ein besonders feministisches Werk nicht öffentlich zu sehen war. In einer Zeit, in der die Rechte und Freiheiten von Frauen überall auf der Welt beschnitten werden – sei es in totalitären oder demokratischen Regimen –, war der verschlossene Pavillon das verdrehte Spiegelbild einer traurigen Realität: Die Stimme der Frauen und die entscheidenden Erzählungen über ihren Körper gehen in politischen Konflikten oft als Erstes verloren.
Ruth Patir: „(M)otherland“. Tel Aviv Museum of Art, ab März; The Jewish Museum, New York, ab Herbst 2025.
Ruth Patir ist eine von sechs Mentor:innen für die Jahre 2025 und 2026 beim Forecast-Künstler:innenprogramm, unterstützt von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Aber nun wird Ruth Patirs „(M)otherland“ doch noch zu sehen sein, wenn auch für ein womöglich kleineres Publikum als in Venedig: Kürzlich kündigte das Jewish Museum in New York an, die Videoinstallation aufzukaufen. Und bevor sie in New York ausgestellt wird, kann Ruth Patir sie diesen März im Tel Aviv Museum of Art erstmals öffentlich zeigen. Vorab konnte ich die gesamte Installation sehen, zumindest online, darunter die fünf Videos in voller Länge.
Eine Medizinische Odyssee
In „(M)otherland“ lässt Ruth Patir an ihrer persönlichen medizinischen Odyssee teilhaben. Bei ihr war die BRCA2-Genmutation diagnostiziert worden, die ein hohes Risiko für Brust- und Eierstockkrebs birgt. Patientinnen wie ihr wird daher häufig präventiv die Gebärmutter entfernt.
Als Frau Jahrgang 1984, die im israelischen Gesundheitssystem eingeschrieben ist, hat sie Anspruch auf bestimmte, staatlich finanzierte Dienstleistungen. Dazu gehört, sich die Eizellen einfrieren zu lassen. Eine eigentlich kostspielige Behandlung, die ihr die Möglichkeit gibt, auch in Zukunft Kinder zu bekommen.
Aber will sie überhaupt Kinder?, fragt sich die Künstlerin. Und obwohl sie dankbar ist, dass der israelische Staat ihr Zugang zu einer solch fortschrittlichen Gesundheitsversorgung verschafft, steht Patir seinem Interesse an ihrem intimsten Recht, eine lebensverändernde Entscheidung zu treffen, zwiespältig gegenüber.
Hohe Bedeutung der Mutterschaft im Judentum
Das ist der springende Punkt von „(M)otherland“. Denn das Judentum ist traditionell matrilinear. Patir ist nicht entgangen, dass die Anreize des israelischen Staats für Frauen, Kinder zu gebären, mit seiner Demografie zu tun haben; die privaten Lebensentscheidungen einer Frau sind in Israel von öffentlichem Interesse.
Darüber hinaus liegen die historischen Ursprünge für die hohe Bedeutung der Mutterschaft im Judentum in einer uralten Kriegspraxis: der sexuellen Gewalt gegen Frauen. Irgendwann in der Spätantike ging man in eine matrilineare Tradition über, als man befürchtete, das jüdische Volk stürbe aus, würde die Zugehörigkeit zu ihm vom Vater bestimmt.
Doch angesichts des Kriegs in Nahost und der unerträglichen Opfer in der Zivilbevölkerung schien eine Auseinandersetzung mit so zeitlosen Themen, die Patir anspricht, bislang unerreichbar. Über 20.000 Unterschriften verzeichnete ein Boykottaufruf gegen den israelischen Pavillon, und zu Beginn der Biennale in Venedig forderten Protestierende seine Schließung – dabei hatte er ohnehin nie eröffnet.
Proteste gegen die rechtsextreme Regierung
Interessanterweise war damals ein einziges von Patirs Videos durch die Glasfassade des Pavillons zu erspähen, das einen ganz anderen Protest zeigt. In der zweieinhalbminütigen Animation „Keening“ bilden menschengroße archäologische Terrakottafiguren mit weiblichen Körpern einen jammernden Demonstrationszug entlang einer großstädtischen Verkehrsstraße. Der Schauplatz ist eine Kreuzung in Tel Aviv, seit Anfang 2023 hatten dort viele Tausend Israelis gegen ihre derzeitige rechtsextreme Regierung protestiert, auch Ruth Patir.
Ursprünglich waren die wöchentlichen Demonstrationen gegen die geplante Justizreform gerichtet, seit dem 7. Oktober 2023 aber protestieren dort die Menschen, da noch immer keine diplomatische Einigung über die Freilassung der Geiseln und ein Ende des Kriegs in Gaza erzielt wurde.
Warum also ließ sich Ruth Patir überhaupt darauf ein, in Venedig ein Land zu repräsentieren, dessen Regierung sie ablehnend gegenübersteht? Weil sie es vorzog, in seinem Namen kritische Kunst öffentlich zu zeigen, anstatt gar nichts auszusprechen, wie sie vor wenigen Wochen bei einem Berliner Symposium über Kunst und Aktivismus begründete.
Abbilder zerbrochener Frauen
Einigen der riesigen Tonfiguren in Patirs animierten Videos fehlen die Köpfe oder Gliedmaßen, Risse ziehen sich an ihren runden Körpern entlang wie bei den echten archäologischen Artefakten, denen sie nachempfunden sind. Diese Abbilder zerbrochener Frauen verkörpern einen universellen Schmerz, eine Wut von Müttern, Ehefrauen, Schwestern und Töchtern auf der ganzen Welt.
Obwohl es sich um 3D-Animationen handelt, ist ihr Anblick erschütternd – die Bilder von durch Gewalt entstellten Menschenkörpern, die seit dem 7. Oktober 2023 unsere Bildschirme fluten, haben sich in das kollektive Bewusstsein eingebrannt.
Die echten, handtellergroßen Figuren stammen aus den nationalen archäologischen Sammlungen in Israel, sie wurden bei Ausgrabungen nahe Jerusalem entdeckt und ähneln denen, die überall in der Levante gefunden werden – in einer Region, in der alles politisch ist, selbst die Archäologie.
Die Forschung ist sich nicht einig über die Funktion dieser rätselhaften Figuren, die alle fünf Videos von „(M)otherland“ bevölkern, sagt Ruth Patir auf Anfrage. Schon in ihren früheren Arbeiten tauchen sie auf, Patir fasziniert die Annahme, diese rudimentären, 3.000 Jahre alten Artefakte könnten von einzelnen Frauen nach ihrem eigenen Abbild angefertigt worden sein wie Miniaturselbstporträts.
Lange ging man davon aus, dass sie Fruchtbarkeitsgöttinnen darstellten, doch nun vermutet die Forschung, die Statuetten aus der Levante könnten auch dem Schutz von Haushalten gewidmet sein. Aus ihrer Verbreitung ergibt sich das Bild einer henotheistischen Gesellschaft, die einen Gott verehrt, aber nicht die Existenz anderer Götter leugnet.
Vermittlerinnen weiblicher Handlungsfähigkeit
Bei Ruth Patir und ihrem schonungslosen Humor werden diese uralten Frauenfiguren zu Vermittlerinnen weiblicher Handlungsfähigkeit. Und um ihnen diese zu verleihen, wird Patir selbst eine von ihnen: In den Videos sieht eine Figur mit wallenden Locken der Künstlerin verblüffend ähnlich. Sie geht in Kliniken ein und aus, führt unangenehme Gespräche mit männlichen Ärzten, lässt sich Hormone spritzen und Eizellen entnehmen.
In der quälend langen Szene einer medizinischen Brustuntersuchung kommt Unbehagen auf, wenn die Finger eines männlichen Arztes in der Tiefe des Brustgewebes nach Unregelmäßigkeiten tasten und dabei in einen rhythmischen Trommelschlag übergehen – schließlich sind die hohlen Tonbrüste ein perfektes Perkussionsinstrument. Patir wirft einen ebenso pointierten wie skurrilen Blick auf die Demütigungen, denen Frauen in der Medizin oft ausgesetzt sind.
Auf die Frage, warum sie ihre eigene medizinische Odyssee zum Thema gemacht hat, antwortet Patir: „Als junge Kunststudentin in Jerusalem waren die führenden Diskurse relationale Ästhetik, partizipative Kunst und Postidentität – und alle biografischen Elemente in meiner Arbeit wurden sofort negiert. Als ich dann nach New York ging, wurde mir das genaue Gegenteil beigebracht: dass die Erzählung in der ersten Person die einzige ist, die eine Wahrheit enthält. Diese Gegensätze interessierten mich, vor allem als ich nach Israel zurückkehrte, denn sie warfen auch ein Licht auf die israelische Identität, die sich ständig vom Individualistischen zum zutiefst Gemeinschaftlichen wandelt.“
Nachrichten von Kriegen in der Welt
Eine weitere Dualität zieht sich durch Patirs Kunst, wenn sie aktuelle Technologien einsetzt – 3D-Programmierung, Trackingverfahren zur Erfassung von Gesichtsausdruck und Körperbewegungen –, um diejenigen Technologien zu befragen, die unser Leben bestimmen. Taucht in einem der Videos von „(M)otherland“ ein Bildschirm auf, etwa als Fernseher in einer Ecke des Wartezimmers oder als Smartphone in der Hand einer antiken Figurine, zeigt er Fernsehsendungen in Echtzeit. Oftmals sind dann die tatsächlichen Nachrichten von Kriegen in der Welt eingeblendet.
Auch die Gespräche in den Kliniken oder zu Hause mit der Familie haben wirklich stattgefunden, Patir hat die Tonaufnahmen in ihre Videos geschnitten.
„(M)otherland“ reflektiert das Frausein und die Belastungen des weiblichen Körpers, auch durch diese geschickt eingewobenen Details, auf eine Weise, mit der sich viele Betrachter:innen identifizieren können. Und obwohl Ruth Patir beängstigende Themen frontal anspricht, tut sie dies ohne Pathos – schließlich spielt sich das Drama des Lebens in den Kleinigkeiten des Alltags ab. Die Geschichte von „(M)otherland“ ist zutiefst persönlich und verweist doch auf das Universelle. Gut, dass sie in diesem Jahr jetzt doch öffentlich gezeigt werden kann.
Aus dem Englischen von Sophie Jung
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