Islamexperte über Dschihadisten: „Sie wollen einen Bürgerkrieg“
Gilles Kepel, ein Kenner des politischen Islam, über die neue Generation der Dschihadisten, die extreme Rechte und das Problem mit dem Islamophobie-Begriff.
taz.am wochenende: Herr Kepel, aus keinem anderen westlichen Land reisen so viele Dschihadisten aus wie aus Frankreich. Was ist da los?
Gilles Kepel: Die Mehrheit der Muslime in Frankreich hat nichts mit der ultrakonservativen Strömung des Islam zu tun. Der Salafismus hat es jedoch geschafft, eine Anziehungskraft zu entwickeln und den islamischen Diskurs zu dominieren.
Der Salafismus versucht die Deutungshoheit über den Islam zu gewinnen?
Der nordafrikanische Islam etwa, der sich nicht auf den Salafismus bezieht, hat große Schwierigkeiten, sich heute in Frankreich Gehör zu verschaffen. In Deutschland gibt es nicht das koloniale Erbe, und die muslimische Bevölkerung kommt vor allem aus der Türkei, wo es keine salafistische Tradition gibt. Dennoch wächst auch in Deutschland die salafistische Szene.
Was kennzeichnet den Salafismus?
Er betreibt eine wortwörtliche Auslegung der „Heiligen Schriften“. Die salafistische Lehre ist eine von den Rechtsgelehrten der Ölmonarchien der Golfstaaten geförderte strenge Auslegung des Islam. Er bietet Glaubensgrundsätze, Verhaltensnormen und Readymade-Lösungen für alle sozialen Probleme an.
wurde 1955 geboren und studierte Soziologie und Arabistik. Er ist einer der renommiertesten Kenner der arabischen Welt, des politischen Islam und des Islamismus. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Professor am Institut d’études politiques de Paris.
Das Buch: Gilles Kepel mit Antoine Jardin: „Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa“. Kunstmann 2016, 304 Seiten, 24 Euro
Das Problem ist, dass die alten muslimischen Institutionen an Einfluss verloren haben?
Die zweite Generation der muslimischen Einwander war Ende des 20. Jahrhunderts stark geprägt durch die Muslimbrüder, die noch in Nordafrika geboren waren, Arabisch sprachen und von denen die meisten noch keine französischen Staatsbürger waren. Während die erste Generation von Arbeitern noch auf den Bau von Moscheen konzentriert war, baute die zweite Einwanderergeneration, die blédards, muslimische Verbände und Institutionen auf und wollten mit dem französischen Staat verhandeln, etwa in der Kopftuchdebatte. Kulturell und sozial unterschieden sie sich von den in Frankreich geborenen und ausgebildeten Kindern der ersten Einwanderer; diese dritte Generation akzeptiert die Stellvertreterschaft der blédards nicht mehr. Manche lehnen den französischen Staat ab und wollen ihre Dissidenz im Innern der französischen Gesellschaft ausdrücken.
Weil sie sich ausgeschlossen fühlen?
In Frankreich, das traditionell ein Einwanderungsland ist, besagte der große politische Mythos, dass ein Franzose ist, der Französisch spricht, französische Schulen besucht und die französische Kultur teilt. Aber statt Integration hat ein Prozess der Desintegration stattgefunden: sowohl in Bezug auf soziale Ausgrenzung wie auch in Bezug auf das Misstrauen jener, die in prekären Verhältnissen oder Problemvierteln lebten und deren Religion abgelehnt wurde.
Und der Salafismus ist die Alternative?
Gilles Kepel
Der Salafismus ist eine imaginäre Alternative: Er erzählt von einer reinen Gesellschaft mit strengen Normen und davon, eine Enklave aufzubauen oder in der muslimischen Welt sein Leben zu leben. Wo dieses Denken extrem wird, lässt sich ein Übergang vom Salafismus zum Dschihadismus beobachten.
Im Buch erwähnen Sie das „retrokoloniale Phänomen“. Welche Rolle spielt die koloniale Vergangenheit Frankreichs für die Radikalisierung wirklich?
Der Fall Mohammed Merah hat mich darauf aufmerksam gemacht. Merah, Sohn einer algerischen Familie, tötete am 19. März 2012 drei jüdische Kinder und deren Lehrer in Toulouse. Das war der 50. Jahrestag des Waffenstillstands zwischen der französischen Armee und dem FLN in Algerien. Er war in einer Familie aufgewachsen, die Frankreich sehr hasste. In gewissem Sinne hat er den Waffenstillstand gebrochen, aber in den französischen Metropolen und nicht auf kolonialem Gebiet. Seine Familie war stolz auf ihn, es gab dieses starke Gefühl der Rache. Für einige Jugendliche hat es damit zu tun, dass sie ihre Väter arbeitslos und gedemütigt sahen.
Einige sehen im französischen Laizismus einen Deckmantel für Diskriminierung.
Ja, der Publizist Emmanuel Todd zum Beispiel glaubt, dass es die Menschen nur deshalb zur „Je suis Charlie“-Demonstration drängte, weil sie dort ihr Recht wahrnehmen konnten, auf die Religion der Schwachen zu spucken. Aber die Menschen waren auf der Straße, weil sie es für falsch halten, wegen einer Karikatur zu töten. Todd verstand nicht, dass hinter der Aussage „Je ne suis pas Charlie“ eine gut organisierte Ideologie steht.
Welche Ideologie?
Die Kouachi-Brüder verfolgten die Strategie der dritten Dschihad-Generation. Sie beabsichtigt eine Spaltung der französischen Gesellschaft und einen ontologischen Bruch zwischen Muslimen und Nichtmuslimen.
Wann entstand die dritte Dschihad-Generation?
Das beginnt 2005, als der Syrer Abu Musab al-Suri sein Manifest „Aufruf zum globalen islamischen Widerstand“ im Internet veröffentlicht. Er zielte auf die jungen, schlecht integrierten Muslime in Europa und die Konvertiten. Sie wollen einen Bürgerkrieg herbeiführen, um das Kalifat in Europa zu errichten, was verrückt ist. Die erste Phase des Dschihadismus sahen wir im Afghanistankrieg und im Bürgerkrieg in Algerien. Die zweite repräsentieren bin Laden und die hierarchische Organisationsstruktur mit al-Qaida an der Spitze. Al-Suri setzte dem eine rhizomartige Struktur entgegen, ein Netzwerk, das von unten nach oben wirkt und die Bevölkerung mobilisiert – was bin Laden nie geschafft hat. Man muss die arabischen Texte im Original lesen, sie sind die ideologische Quelle all dessen und sie sind wichtig, um die innerarabischen Debatten zu verstehen.
Texte übersetzen sich nicht selbstverständlich in Taten.
Nein, wir müssen uns die Texte, aber auch die sozialen Bedingungen und individuellen psychologischen Gründe anschauen. Einige werfen mir vor, ein Essenzialist, ein Orientalist zu sein, aber ich denke, wir müssen alle drei Aspekte in der Analyse zusammenbringen. Oliver Roy sagt, man müsse nicht Arabisch verstehen, um über den Dschihad an französischen Werten zu sprechen, aber nehmen wir den Mörder in Magnanville, der im Juni den Polizist und seine Frau getötet hat: Er rechtfertigte alles über seine Lektüre der arabischen Texte. Die Ideologie ist wichtig, aber es dauerte sieben Jahre, sie zu implementieren. Sie musste durch die sozialen Netzwerke, durch die Gefängnisse als Inkubator, bis sie sich schließlich in die erste Tat übersetzte: Mohammed Merah war 2012 der Erste, der nach diesem Muster vorging.
Haben die Geheimdienste den Übergang mitgekriegt?
Sie haben die kulturelle Revolution zwischen dem zweiten und dritten Dschihad verpasst. Sie waren immer noch auf die pyramidenartige Struktur eines bin Laden fokussiert und haben die netzwerkbasierte dschihadistische Revolution nicht verstanden.
Zeugen die letzten Attentate eher von Stärke oder von Schwäche der Dschihadisten?
Das Ziel ist die Mobilisierung der Massen, und da liegt der Unterschied zwischen Januar 2015 und Juli 2016. Die Ziele im Januar waren genau gewählt: Charlie Hebdo als die sogenannten Islamophoben, der Polizist ein Apostat und die Juden die ewigen Feinde. In Nizza aber waren von 86 Toten 30 Muslime, was ein Problem für die beabsichtigte Mobilisierung darstellt. Ich sprach mit muslimischen Gefängnisinsassen auch über den 13. November 2015. Einer sagte: „Verdammt, mein Bruder war in dem Stadion und Kinder aus der Nachbarschaft.“ Eine Verschwörungstheorie machte die Runde, der Mossad stecke dahinter, verrückt; jedenfalls machte das die Stadion-Attentäter nicht gerade populär. Der Dschihadist Omar Omsen sagte, der November sei eine Katastrophe, weil er Muslime entfremdet habe. Der IS antwortete, die muslimischen Kollateralopfer seien für den Heiligen Krieg gestorben. Sie multiplizieren die Anschläge in der Hoffnung, dass die Gesellschaft Vergeltung übt. Je mehr Anschläge, desto mehr werden den Front National wählen.
Das ist es, was sie wollen?
Zwischen den rechten Identitären und den Dschihadisten gibt es Passagen, Brücken. Der berühmte Terrorist Carlos etwa, ein früherer Leninist, schrieb mir aus dem Gefängnis begeistert, die Dschihadisten würden den psychologischen Krieg gegen den Westen gewinnen, etwas, wovon er immer geträumt, was aber nicht erreicht habe. Mittlerweile ist er auch zum Islam konvertiert. Die Dschihadisten wollen, dass die Mehrheitsgesellschaft Vergeltung an allen Muslimen übt, sodass die Muslime unter Führung der Radikalsten agieren können. Sie freuen sich über den Erfolg der extremen Rechten, weil sie wissen, dass sie dann mit ihrer Vision von einer islamophoben Gesellschaft am Ziel sind.
2012 haben 80 Prozent der Muslime für Hollande gestimmt. 2013 sahen wir muslimische Gruppierungen im „Marche pour tous“ Seite an Seite mit Reaktionären.
Hollande bekommt die Stimmen nicht mehr. Es gibt einige neue politische islamische Unternehmer, die eine Affinität zu den Wertvorstellungen der Rechten zeigen und die Wahl zu ihren Gunsten kapern wollen. Und die Islamophobie-Gruppe möchte in den nächsten Wahlen ein Player werden.
Wen meinen Sie damit?
Der Begriff Islamophobie ist eine Erfindung der Muslimbrüder, er ist ein ideologisches Konstrukt und basiert auf einer Scheinsymmetrie zum Antisemitismus. Die Muslimbrüder und Salafisten prägten den Begriff, um Kritik an ihrem religiösen Dogma zu skandalisieren und mundtot zu machen. Es gibt eine neue Generation, die mit dem Begriff arbeitet, die Generation von Tariq Ramadan, einem Schweizer Publizisten ägyptischer Herkunft. Er ist das rolemodel für Michel Houellebecques Staatspräsidenten Mohamed Ben Abbes im Roman „Unterwerfung“. Ramadan nimmt das wörtlich und möchte nun Franzose sein.
Sie scherzen.
Als Houellebecques Buch erscheinen sollte, rief mich seine Lektorin an und bat mich, die Fahne zu lesen. Ich war überrascht, wie gut er über den politischen Islam informiert war, dann trafen wir uns zum Dinner, und er sagte, er habe meine Bücher gelesen. Er sagte das auch am Morgen des 7. Januar im Radio, als er über sein Buch sprach, das an diesem Tag erschienen war und sofort der Islamophobie verdächtigt wurde. Daraufhin riefen mich Kollegen an, die ihn im Radio gehört hatten, und sagten, ich müsse mich von Houellebecque distanzieren, weil er ein Menschenfeind sei. Das habe ich abgelehnt.
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