Investitionsstau an Universitäten: Strecken, schieben, stauchen
Die Länder versuchen die doppelten Abi-Jahrgänge auf Sparflamme auszubilden. In NRW drohen Engpässe vor allem beim studentischen Wohnen.
Auf Höhe der Zentralbibliothek heißt es: Füße heben. Kathrin Jewanski ist für einen Moment nachlässig, stolpert über eine der hervorstehenden Bodenplatten und taumelt. „Das ist normal“, sagt die Referentin für Hochschulpolitik des AStA an der Ruhruniversität Bochum. „Ist schon gar kein Thema mehr, wenn hier im Winter Platten zerbrechen und abgesperrt werden müssen.“
Diese Lockerheit müssen sich wohl auch die künftigen Studierenden der Universität Bochum und anderer Hochschulen in Nordrhein-Westfalen aneignen. Es ist nicht alles fertig und piekfein, wenn der doppelte Abiturjahrgang 2013 an die Hochschulen drängt. Bis zu 130.000 Studienanfänger werden im Herbst erwartet – fast ein Drittel mehr als im vergangenen Wintersemester. Das stellt die 70 Hochschulen vor große Herausforderungen.
„Wir freuen uns auf die Studierenden“, machen die Sprecher der Unis zum Einstieg eines jeden Gesprächs klar. Das ist ihre Art, die Last zu schultern. Die Universität Düsseldorf hat sich gegenüber dem Land verpflichtet, zwischen 2011 und 2015 rund 5.300 Studierende zusätzlich zu ihren durchschnittlichen Anfängerzahlen aufzunehmen, in Köln sollen es 8.000 Studierende sein.
An der Gemeinschaftsuni Duisburg-Essen können allein in den kommenden beiden Jahren etwa 5.000 und in Bochum 4.500 zusätzliche Studierende an den Start gehen. „Und mit dieser Verpflichtung werden wir umgehen, wir werden unsere Zusagen halten.“ Will heißen: Wir sind gut vorbereitet, wir schaffen das.
Fieberhaftes Gebastel
In Wahrheit klemmt und kneift es an allen Ecken und Enden. Mit viel Engagement versuchen die Unis den Doppeljahrgang aufzunehmen – mit viel zu wenig Mitteln. Arbeitsgruppen basteln an den Hochschulen fieberhaft an Konzepten, um dem Ansturm Herr zu werden. In Münster wird geprüft, ob und wie Studierende künftig in ehemaligen britischen Kasernen untergebracht werden könnten. In Köln und Paderborn werben Studierende und Unileitung in gemeinsamen Kampagnen bei Privatleuten dafür, Wohnraum zu vermieten. Das Mittel der Wahl heißt: strecken, schieben, stauchen.
Der Investitionsstau zieht sich durch alle Bereiche der Infrastruktur für die Studierenden. Engpässe drohen vor allem in den Bereichen studentisches Wohnen und Gastronomie. Das zeigt ein Monitoring des Wissenschaftsministeriums. In den Mensen und Cafeterien werde man bestehende Angebote und die Öffnungszeiten so weit ausbauen, wie es der Finanzrahmen zulasse, kommentiert das Helga Fels, Referentin der Arbeitsgemeinschaft der Studentenwerke in NRW. „Aber man kann nicht grenzenlos anbauen.“ Gerade für den Neubau von Wohnheimen habe man jahrelang keine Mittel bekommen.
Kürzlich forderte Wissenschaftsministerin Svenja Schulze, die lediglich 50 Millionen Euro in Form von vergünstigten Darlehen zur Verfügung stellt, mehr Kreativität bei der Wohnraumsuche. „Wenn ich das höre – ’Wir sind kreativ!‘ “, kontert Fels. Mancherorts wurden kurzfristig Pensionen oder Hotels umgebaut, zusätzliche Wohnungen bei Investoren beauftragt und dann langfristig angemietet. In der Zeit von 2010 bis 2013 konnte die Zahl der Wohnplätze so ohne zusätzliche Mittel aus der Grundfinanzierung des Landes um 1.200 gesteigert werden.
Nachhaltiger Aufwuchs
Rund 11 Prozent der Studierenden können aktuell in einem Wohnheim der Studentenwerke oder privater Investoren wohnen. „Ich habe Bedenken, ob Studierende tatsächlich längere Zeit in entfernt gelegenen Wohnheimen – wie etwa den in Münster angedachten ehemaligen Kasernen – wohnen werden“, sagt Fels. „Wir brauchen auch Mittel für Neubauten, alles andere ist kein nachhaltiger Aufwuchs von Wohnraum.“
Nachhaltiger Aufwuchs – davon träumt auch Michael Jost. Der Personalrat an der Ruhruni Bochum resigniert vor der Art, wie das Land und die Hochschulen die Herausforderung der doppelten Abiturjahrgänge angehen. „Das wissenschaftliche Prekariat nimmt deutlich zu – und füllt die Lücken beim Lehrbedarf auf“, sagt Jost.
An der Ruhruni Bochum sind von 2.710 Stellen im wissenschaftlichen Mittelbau nur noch 380 unbefristet. Ähnlich schätzt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) die Relation bei den 4.200 Personen für Lehraufgaben, die in ganz NRW zwischen 2007 und 2011 neu eingestellt wurden. Besonders beliebt ist die Anstellung von Jungforschern, die neben ihrer Promotion Lehraufträge erfüllen. 700 dieser Mitarbeiter werden nicht nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst, sondern nach der alleinigen Maßgabe der Arbeitgeber bezahlt. In anderen Branchen heißt das Dumping. Teilweise arbeiten sie mit Verträgen mit einer Laufzeit von unter einem Jahr.
Hinzu kommen laut Jost an die 600 Lehrbeauftragte, von denen viele mit Lehrstundensätzen von 30 bis 40 Euro auskommen sollen. In den letzten Jahren gehen vermehrt auch wissenschaftliche Mitarbeiter auf Drittmittelstellen in die Lehre, um die großen Studierendenzahlen zu bewältigen – obwohl sie eigentlich für die Forschung bezahlt werden.
Kein zeitlich begrenztes Problem
„Es werden also keine Dauerstellen geschaffen, obwohl Daueraufgaben anfallen“, kritisiert Jost. Stattdessen stellten es die Hochschulen und das Land nach außen hin so dar, als seien die doppelten Abiturjahrgänge ein auf vier Jahre begrenztes Problem. Dementsprechend sind momentan auch die zusätzlichen Mittel für die Hochschulen ausgelegt, die 2 Milliarden Euro aus dem Hochschulpakt und weitere 8 Milliarden Euro des Landes bis 2020 beziehen sich auf die Prognosen, wie viele Bachelorstudierende an die Universitäten kommen werden. „Und was passiert, wenn die dann auch noch einen Master haben wollen?“, fragt Jost. „Am Ende wird es wohl wie immer irgendwie gehen, auch mit der Seifenblasenpolitik der Hochschulen und des Landes“, sagt er. „Aber nur, weil das Personal den Extraschritt macht und den Mehraufwand in seiner prekären Lage klaglos stemmt.“
Auch auf ihrem Campus müssen die Hochschulen kreativ sei. Florian Rittmeier drückt es so aus: „Der Baumarkt ist ein Segen.“ Der AStA-Vorsitzende der Uni Paderborn meint damit, dass die Universität einen Praktiker-Markt zum Hörsaalgebäude umbaut. Auf dem Uni-Gelände herrscht seit einigen Jahren ein regelrechter Bauboom. 14 Hochschulgebäude werden für knapp 108 Millionen Euro um- oder neu gebaut. Ob das alles reicht und fertig wird? „Es wird auf jeden Fall eng – nicht weil die Uni sich nicht bemühen würde, doch in den letzten Jahrzehnten wurde halt nichts gemacht.“
In diesem Satz steckt das ganze Dilemma der nordrhein-westfälischen Hochschulen. Sie bauen aktuell an allen Ecken und Enden. Und mittendrin der doppelte Abi-Jahrgang. Der muss durch enge Gänge unter freiliegenden Kabelleitungen und über gesplitterte Fliesen. „Das ist nicht nur eine Zumutung für Mitarbeiter der Uni, das ist auch nicht barrierefrei – genauso wenig wie der restliche Campus“, sagt AStA-Referentin Kathrin Jewanski.
Auch in Bochum drehen momentan die Kräne ihre Runden, von 2007 bis 2020 wird die komplette Uni für 1,3 Milliarden Euro kernsaniert. „Aber das kommt viel zu spät“, sagt Jewanski.
Der Text ist Teil I unserer Serie: Wie studieren 2,5 Millionen junge Leute 2013?
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