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Intimitätskoordinatorin am FilmsetErmutigung zum Neinsagen

Sarah Lee entwickelt und übt mit Dar­stel­le­r:in­nen Bewegungsabläufe für intime Filmszenen. Und stärkt ihre Position gegenüber der Regie.

Geübt mit Sarah Lee: Intimer Kuss in der ZDF-Serie „Love Sucks“ Foto: Frank Dicks/ZDF

Bremen taz | Das Kino und die anderen visuellen Medien sind auch deshalb so verführerisch, weil sie unsere Schaulust befriedigen. Wir sehen uns gerne andere Menschen an. Je näher wir ihnen dabei kommen, desto intensiver ist die Seherfahrung. Damit wir schauen können, müssen die Dar­stel­le­r*in­nen etwas zeigen. Und das ist manchmal ein Problem.

Denn wenn es um Erotik, Intimität oder Nacktheit geht, sind die Interessen der Menschen vor der Kamera nicht unbedingt deckungsgleich mit denen der Re­gis­seu­r*in­nen und Produzent*innen. Und da es dabei immer ein Machtgefälle gibt, bei dem meistens die Schau­spie­le­r*in­nen in der schwächeren Position sind, kommt es zu Konflikten.

Bis vor ein paar Jahren gehörte dies ganz selbstverständlich zu den nicht angenehmen Arbeitsbedingungen in den Film- und Fernsehstudios, die viele Darsteller, vor allem aber Darstellerinnen ertragen mussten, wenn sie beschäftigt werden wollten. Doch wie so vieles hat sich auch dies durch die ­Metoo-Bewegung verändert.

Seit einigen Jahren gibt es in der Film- und Fernsehbranche Bemühungen, die Intimitätsarbeit in den visuellen Medien professioneller zu gestalten. Dabei ist der neue Beruf der In­ti­mi­täts­ko­or­di­na­to­r*in­nen entstanden.

Illusion von körperlicher Nähe

Die in London geborene, in Südafrika aufgewachsene und seit 37 Jahren in Bremen lebende Sarah Lee gehört zu den ersten, die in Deutschland in diesem Gewerk arbeiten. Bei einem Gespräch über ihre Arbeit fallen immer wieder zwei Worte, die die verschiedenen Ebenen ihres Handwerks gut verdeutlichen: „Machtstrukturen“ und „Choreografie“.

Einerseits sieht sie ihre Aufgabe darin, die Position der Dar­stel­le­r*in­nen am Filmset zu stärken: „Ich möchte sie dazu ermutigen, nein zu sagen.“ Wenn sich eine Person bei einer Kameraeinstellung nicht wohlfühlt oder wenn sie der Meinung ist, dass bei den Dreharbeiten gegen ihren Willen Grenzen überschritten werden, dann ist sie deren Fürsprecher.

Und um solche Situationen von vornherein zu vermeiden, entwickelt sie in Zusammenarbeit mit der Regie und den Schau­spie­le­r*in­nen einen Bewegungsablauf, bei dem für die Kamera nur die Illusion von körperlicher Nähe, sexuellen Handlungen und Nacktheit geschaffen wird.

Diese technische Arbeit vergleicht Lee mit der von Stunt- und Kampfkoordinator*innen, bei denen ja auch alles so sicher wie möglich gedreht wird, aber dann möglichst gefährlich aussehen soll. Einerseits muss sie also gut verhandeln können. Das hat sie bei ihrer Arbeit als Agentin gelernt, die die Gagen und Verträge von Schau­spie­le­r*in­nen mit den Produktionsfirmen aushandelte.

Andererseits muss sie wie eine Trainerin – es gibt auch die alternative englische Berufsbezeichnung „Intimacy Coach“ – bei Proben vor den Dreharbeiten einzelne Bewegungen mit den Dar­stel­le­r*in­nen einüben. Bei diesen Choreografien sehen dann manchmal unbequeme und unnatürliche Verrenkungen besonders attraktiv und natürlich aus.

Im Idealfall beginnt ihre Arbeit aber schon bei der Vorproduktion. Dann liest sie das Drehbuch, markiert die Szenen, bei denen ihre Arbeit nötig ist und bespricht diese mit Regie und Produktion, mit denen sie dann schon in der Vorplanung Lösungen entwickelt, mit denen alle Beteiligten zufrieden sind.

Die Arbeit beginnt beim Drehbuch

Mit den Dar­stel­le­r*in­nen wird dann deren „Wunschzettel“ durchgegangen, auf dem sie angeben, wo ihre Grenzen beim Drehen liegen und ab wann sie sich unwohl fühlen würden. Aber es gibt auch Filmprojekte, bei denen sie kurzfristig für ein paar Drehtage engagiert wird, um bei einzelnen Filmsequenzen zu helfen.

Zu Lees Arbeit bei den Dreharbeiten gehört es, ein „Closed-Set-Protokoll“ durchzusetzen, also dafür zu sorgen, dass beim Dreh nur so viele Leute am Set anwesend sind, wie unbedingt nötig. So wird die Privatsphäre gewahrt und ein sicherer Raum für die Schau­spie­le­r*in­nen geschaffen.

Am Set sorgt Lee dafür, dass die Dar­stel­le­r*in­nen mit allem Nötigen wie Bademänteln und Decken versorgt sind. Außerdem kommt eine spezielle „Schutzkleidung“ zum Einsatz, die einzelne Körperteile abdeckt. Bei den einzelnen Takes sitzt sie dann am Monitor und achtet darauf, dass nur das gedreht wird, was vorher vereinbart und schriftlich festgelegt wurde. Nach dem Dreh gibt es eine Nachbesprechung, um mit den Schau­spie­le­r*in­nen den Verlauf zu besprechen und „ihr Wohlbefinden zu überprüfen“.

Als ein Produzent Lee 2021 vorschlug, als Intimitätskoordinatorin zu arbeiten, wusste sie noch gar nicht, dass es diesen Beruf überhaupt gab. Seitdem hat sie an neunzehn Produktionen mitgearbeitet, deren Bandbreite von Fernsehserien wie „Love Sucks“ über Fernsehfilme wie „Polizeiruf 110“ bis zu Studentenfilmen und Kinospielfilmen wie „Touched“ und „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ reicht.

Für ihre Ausbildung ging sie „an die Quelle“ und studierte über einen Zeitraum von drei Jahren an der Schule für „Intimacy Directors and Coordinators“ (IDC) in New York. Sarah Lee erwartet, dass es eine steigende Nachfrage für ihr ­Gewerk geben wird. Wenn es erst etabliert ist, rechnet sie mit einer entsprechenden „Gestaltung von Branchenstandards und Vorschriften“.

Auf die Frage, ob die Beschäftigung von ­In­ti­mi­tätko­ordnia­to­r*in­nen bei Filmproduktionen obligatorisch sein sollte, antwortet sie nur halb scherzhaft: Es wäre schön, wenn sie „freiwillig verpflichtend“ würde.

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