Interview mit Piratin Cornelia Otto: "Werden gegen harte Wände rennen“
Nach ihrem Höhenflug drohen die Piraten bei der Bundestagswahl zu scheitern. Ihre Berliner Spitzenkandidatin Cornelia Otto hofft auf die Wende.
taz: Frau Otto, wie führt man einen aussichtslosen Wahlkampf?
Cornelia Otto: Wieso denn aussichtslos?
Bundesweit liegt Ihre Partei bei 2 Prozent, selbst in der Hochburg Berlin liegen die Piraten wieder unter 5 Prozent.
Ach, die Umfragewerte. Ich lasse mich da nicht verrückt machen. Bei der letzten Abgeordnetenhauswahl sind wir auch mit 2 Prozent gestartet und hatten am Ende 8,9 Prozent. Die ein, zwei Prozent, die uns im Bund fehlen, können wir locker wettmachen. Ich tippe, dass wir am 22. September 5,7 Prozent bekommen.
Das derzeitige Bild Ihrer Partei spricht eher dagegen: Die Partei ist mit sich selbst beschäftigt.
Das ist vielleicht der Medientenor. Im Gespräch mit Bürgern auf der Straße bekommen wir ganz andere Rückmeldungen: sehr starke Offenheit, teilweise sogar Begeisterung.
Cornelia Otto, 38, wurde im Februar zur Spitzenkandidatin der Berliner Piraten gewählt. Die gebürtige Hamburgerin ist seit 2009 in der Partei, dort in der "Servicegruppe Recherche". Sie arbeitet als selbstständige Webdesignerin und schreibt gerade ihre Bachelor-Arbeit über Finanzmarktspekulation.
Auf den Reiz der Neuen können Sie aber nicht mehr setzen.
Zu dem, was andere Parteien an Geschichte hinter sich haben, sind wir immer noch die Neuen. Aber ja, wir müssen jetzt liefern, müssen unsere Themen in die Öffentlichkeit bringen und sagen: So stellen wir uns die Gesellschaft in diesem Jahrhundert vor. Gebt uns eine Chance und wir werden versuchen, es umzusetzen.
Wie soll diese Überzeugungsarbeit gelingen?
Wir werden die Finger in ganz viele offene Wunden legen. Momentan gibt’s da ja einige Steilvorlagen: die USA-Überwachungsgeschichte Prism, die Drohnen, die Drosselkom.
Die Piraten nutzen diese Steilvorlagen kaum.
Dafür braucht es zwei Dinge: ein gutes Netzwerk, das haben wir intern, aber nicht extern. Und Geld, das fehlt uns an jeder Ecke. Wir können etwa für den Wahlkampf nicht einfach eine Agentur beauftragen, sondern müssen alles selber machen und darauf vertrauen, dass Menschen gerade Zeit haben, Dinge zu tun. Das dauert länger, aber da sind wir halt anders.
Und derweil besetzen andere die Themen.
Wir haben inzwischen durchaus auf dem Schirm, Themen nicht mehr an uns vorbeiziehen zu lassen.
Sie bezeichnen sich als Nerd. Warum braucht der Bundestag Nerds?
Weil Nerds die Dinge auseinanderschrauben und nachgucken, wie sie innen funktionieren.
Sie schrauben Dinge auseinander?
Ja, meine Rechner baue ich selbst zusammen. Ich repariere auch gern, löte Dinge zusammen. Ich wollte schon immer verstehen, wie die Welt funktioniert. Deshalb war auch mein Traum, Physik und Philosophie zu studieren. Am Ende ist es die weltlichere Variante geworden: Politik, Soziologie und VWL.
Und was wollen Sie im Bundestag auseinanderschrauben?
Das Thema soziale Gerechtigkeit liegt mir sehr am Herzen. Alle sollten die gleichen Chancen haben, ihr Leben zu gestalten. Wenn Unternehmen Gewinne einstreichen, weil ihre Leute mit einem Lohn nach Hause gehen, mit dem sie gerade so über die Runden kommen, obwohl sie sechs Tage die Woche die ganze Scheißarbeit machen, dann macht mich das wütend. Gleichzeitig müssen wir, in Anbetracht des Überwachungsskandals von Prism und Tempora, ganz genau hinschauen und klären, in welchem Ausmaß hier unbescholtene Bürger ausspioniert werden und in welchem Umfang Regierung und Opposition möglicherweise davon wussten.
Wie wollen Sie das ändern?
Es gibt viele Punkte, an denen wir ansetzen können. Wir Piraten sind ja Bürger, die politikverdrossen waren und gesagt haben: Jetzt machen wir das eben selber. Und ich bin eine davon. Wir wollen überlegen, wie wir unsere Gesellschaft langfristig, vielleicht sogar europaweit organisieren können. Die Piraten sind eine globale Bewegung, wir denken da auf einem anderen Level. Nehmen Sie das bedingungslose Grundeinkommen, das in unserem Grundsatz- und Wahlprogramm steht.
Ihr Herzensthema: ein Grundeinkommen für alle, ob im Job oder arbeitslos.
Das ist nicht mein Herzensthema, aber eines, das ich sehr spannend finde. Das Grundeinkommen ist ein Generationenkonzept, das erfordert ein Umdenken über die Art und Weise, wie wir zusammenleben. Das geht nicht von heute auf morgen.
Was schlagen Sie vor: Wie viel Geld sollte jeder monatlich bekommen?
Genau das wollen wir mit den Bürgern diskutieren. Wir wollen ja keine Top-down-Politik im Sinne: Das sind unsere Ideen, die setzen wir jetzt durch. Unsere Idee ist, gleich nach dem Einzug in den Bundestag eine Enquetekommission zu gründen und verschiedene Modelle auszuarbeiten, über die dann die Bürger in einem Volksentscheid abstimmen. Das verstehen wir unter Mitbestimmung.
Wäre ein Grundeinkommen in Berlin, der Hauptstadt der Erwerbslosen, überhaupt finanzier- und durchsetzbar?
Das müsste man mal durchrechnen. Aber richtig, es gibt Probleme, die jetzt gelöst werden müssen. Wenn Leute von ihrem Hartz IV nicht mehr ihre Mieten zahlen können oder als Leiharbeiter nicht genug Geld verdienen, können wir nicht 20, 30 Jahre aufs bedingungslose Grundeinkommen warten. Deshalb fordern wir ja auch, die Hartz-IV-Sanktionen abzuschaffen. Deshalb wollen wir, dass Leiharbeit begrenzt wird und Leiharbeiter nicht weniger Lohn erhalten, sondern 10 Prozent mehr als die Stammbelegschaft, weil ihre Arbeit viel unsicherer ist. Und wir wollen Mindestlöhne von 9,77 Euro.
All das fordern so oder ähnlich auch Linkspartei, Grüne und SPD. Warum müssen es auch noch die Piraten tun?
Weil die anderen erst mal beweisen müssen, dass sie ernst meinen, was sie erzählen. Wir haben Friedensparteien erlebt, die einen Krieg angefangen haben. Wir haben eine sozialliberale Partei erlebt, die Hartz-IV-Gesetze mit Sanktionen eingeführt hat. Als Bürgerin kann ich diesen Parteien einfach nicht mehr vertrauen. Meine Hoffnung ist, dass die Piraten dieses Vertrauen zurückgeben können.
Auch die Piraten standen mal für Transparenz und tagen jetzt teils hinter verschlossen Türen. Und wirkliche Onlinedemokratie gibt’s bis heute nicht in der Partei. Auch da wurde Vertrauen enttäuscht.
Das ist mir bewusst. Nur war da auch eine Erwartung, dass wir mit wehenden Fahnen ins Parlament einziehen und alles sofort anders machen. Nur ist Politik eben doch das Bohren ganz dicker Bretter. Ich glaube, man muss ein gehöriges Maß an Masochismus mitbringen, wenn man als Idealist in den Politikbetrieb geht, um etwas zu verändern. Uns muss klar sein, dass wir im Bundestag erst mal vier Jahre gegen ganz harte Wände rennen und wenig bewegen werden.
Sie nennen die Piraten eine linke Partei. Was heißt für Sie links?
Starke Bürgerrechte. Der Bürger muss die Freiheit haben zu entscheiden, wie er sein Leben führt. Gleichzeitig ist es wichtig, dass eine Gesellschaft sich vertraut, dass sie wieder Solidarität lernt. Der Neoliberalismus hat das ja völlig untergraben. Je marktliberaler eine Gesellschaft ist, umso weiter geht die soziale Schere auf, umso größer sind die Spannungen und umso schlechter geht es allen.
Sie haben mal eine monatliche Demonstrationspflicht gefordert. Was würde die helfen?
(lacht) Stimmt, das habe ich mal gesagt. Natürlich kann man niemanden zwingen, politisch zu sein. Der Vorschlag sollte die Menschen aber zum Nachdenken bringen. Wofür bin ich eigentlich, und was finde ich doof? Mit diesen Ideen rauszugehen und sich mit anderen Leuten auszutauschen wäre Teil eines politischen Bürgers, der leider immer mehr verloren geht. Auch weil ihm die Politik nur noch die Rolle als Zuschauer lässt. Die Politiker allein können die Welt aber nicht verändern. Da muss jeder mitmachen.
In Berlin wäre es an der Piraten-Fraktion, diese Visionen voranzutreiben. Die aber fiel zuletzt mit internen Verwerfungen auf. Ist die Fraktion eher Stütze oder Hemmnis für Ihren Wahlkampf?
In jeder Gruppe gibt es gewisse Dynamiken, das passiert in den besten Familien. Das Bild nach außen erscheint aber heftiger, als es tatsächlich ist. Die Fraktion unterstützt mit ihrem Wissen und Können die Partei sehr.
Was ist denn nach Ihrer Meinung die wichtigste Veränderung, die die Fraktion bewirkt hat?
Ich habe die Landesebene nicht so im Blick, aber ich finde großartig, wie wir den Untersuchungsausschuss zum BER leiten. Auch weil wir diese Webseite aufgebaut haben, mit der man transparent nachvollziehen kann, was wann genau gelaufen ist. Zudem werden jetzt Ausschüsse live gestreamt, das gab’s vorher nicht.
Zuletzt musste sich die Fraktion Benimmregeln geben wie: „Wir arbeiten nicht gegeneinander.“ Kindergarten, oder?
Das muss die Fraktion für sich klären. Ich finde es Common Sense, dass wir zusammenhalten.
Ist es ein Problem, dass profilierte Piraten wie die früheren Fraktionschefs Christopher Lauer und Andreas Baum nur noch am Rand mitspielen?
Nein. Ich finde, die Neuen machen das super. Es sind nicht immer nur die medial superpräsenten Menschen, die wertvoll sind. Es ist auch mal gut, dass jemand wie Alexander Spies, der mehr im Hintergrund arbeitet, Fraktionsvorsitzender wird und für seine Arbeit mehr Aufmerksamkeit bekommt.
Auch Sie arbeiteten bei den Piraten bisher im Hintergrund, waren Webdesignerin und Studentin. Nun sind Sie Spitzenkandidatin und saßen zuletzt in der TV-Politshow von Stefan Raab. Wie fühlt sich das an?
Natürlich ist der Wechsel brachial. Aber was kann es Besseres geben, als Visionen in die Öffentlichkeit zu tragen, für die man brennt? Und die Resonanz auf den Raab-Auftritt, auch außerhalb der Partei, war äußerst positiv. Von daher werde ich das auch weitermachen.
Sie sind bereit für die Ochsentour Wahlkampf?
Ich schreibe gerade noch meine Bachelor-Arbeit, aber sonst ist Wahlkampf. Ich habe noch ein bisschen was Erspartes, und davon werde ich bis zum Herbst leben. Dann ist mein Konto garantiert auf null, aber das ist okay. Die Chance, seinen Traum zu leben, bekommt man vielleicht nur ein einziges Mal im Leben.
Und wenn der Einsatz am Ende umsonst war und Sie doch nicht in den Bundestag kommen?
Das wäre schade, echt schade. Aber zum einen wäre schon im kommenden Jahr die Europawahl. Und als Partei sind wir ja gekommen, um zu bleiben. Auch 2009, als wir 2 Prozent bei der Bundestagswahl hatten, wurde gesagt, die Piraten sind weg. Und? Wir sind immer noch da.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Analyse der US-Wahl
Illiberalismus zeigt sein autoritäres Gesicht