Interview mit Filmregisseur Frammartino: "Offenes Kino ist politisch"
Der italienische Regisseur Michelangelo Frammartino über seinen Film "Vier Leben", starkes Raumbewusstsein und den Unwillen, jetzt politisches Kino zu machen.
taz: Herr Frammartino, Sie haben, bevor Sie Ihre ersten Kinofilme gedreht haben, erst Architektur studiert und dann im Bereich Video und Installation gearbeitet. Gibt es eine ästhetische Entwicklungslinie von diesen Anfängen zu Ihrem Film "Vier Leben"?
Michelangelo Frammartino: In der Architektur wie im Kino geht es für mich um das "Bauen" eines Orts, der dann von anderen Menschen übernommen und bewohnt wird. Und durch das Bewohnen entsteht aus diesem Ort eine Erzählung. Meine Bilder sollen dem Zuschauer die Freiheit lassen, sie zu Orten zu machen, in denen er sich frei bewegen kann. Die Installationen, die ich nach meinem Studium entworfen habe, sind sozusagen die Brücke vom einen zum anderen: Bild- und Raumarchitekturen auf dem Weg zum Kino.
Aber auch die Bilder Ihres Film selbst sind von einem starken Raumbewusstsein geprägt. Indem sie sehr stark mit Ausschnitten, auch mit dem arbeiten, was abseits des Bildes passiert.
Für mich gehört im Kino das im Bild nicht Sichtbare entscheidend dazu. Sogar die sichtbaren Dinge selbst sind nie auf das rein Sichtbare zu reduzieren. "Vier Leben" hat sozusagen einen unsichtbaren Hauptdarsteller, der unterschiedliche Gestalt annimmt: eine Art Seele. Die Gestalt einer Ziege zum Beispiel, die aber nicht nur eine Ziege ist, die Gestalt eines Baums, der nicht nur ein Baum ist. So verwandelt sich die Ziege, indem ich von ihrer "Geschichte" zu der des Baums übergehe, sozusagen in diesen Baum.
Was war zuerst da: die Figuren, die Räume, die Orte in Kalabrien, an denen Sie drehen wollten? Oder war da zuerst die Idee, das alles mit dem unsichtbaren Protagonisten zu verbinden?
Am Anfang standen die Orte. Das rituelle Fest im dritten Teil, die Köhler und die anderen beiden Orte habe ich nach und nach entdeckt. Mir wurde dann klar, dass da eine Genauigkeit in der Ordnung der Dinge bereits vor Ort existierte: das Menschliche (der Hirte), das Tierische (die Ziege), das Pflanzliche (der Baum) und das Mineralische (die Kohle). Diesen Sinn habe ich nicht gesucht, der hat sich mir aufgedrängt.
Im Ansatz - und im Eindruck - ist Ihr Film stark dokumentarisch und beobachtend. Woher kommt dann der Impuls, das Ganze noch einmal anders, nämlich durch eine Erzählung zu verbinden?
Mir scheinen beide Seiten wichtig, im Film wie im Leben: Zum einen das bloße, zunächst ungerichtete Werden der Dinge, zum anderen der Wunsch, dahinter einen Plan zu erkennen. Auf die Frage, ob "Vier Leben" nun ein Dokumentar- oder ein Spielfilm ist, kann ich nur antworten: Der Widerspruch, das Wechselspiel zwischen beidem ist das, worauf es mir ankommt.
MICHELANGELO FRAMMARTINO ist 1968 geboren. Seine Familie stammt aus Kalabrien, er hat in Mailand Architektur studiert, danach als Videokünstler gearbeitet.
***
Der Film: "Vier Leben", vier Kapitel, vier "Darsteller": ein Hirte, ein Zicklein, ein Baum und die daraus entstehende Kohle. Wobei der Film ohnehin nahelegt, dass aus dem einen das anderGiuseppee wird. Aus dem Hirten das Zicklein. Aus dem Zicklein der Baum. Aus dem Baum die Kohle. Verwandlung, Seelenwanderung, wie immer man es nennen will. Die Landschaft Kalabriens tritt oft in den Vordergrund. Das alles ist weniger ernst, als es klingt. In einer grandiosen Einstellung wirkt, was ein Hund tut, irre komisch.
***
"Vier Leben". Regie: Michelangelo Frammartino. Mit Giuseppe Fuda, Bruno Timpano u. a. Italien/ Deutschland/Schweiz 2010, 88 Min.
Für mich gibt es ein weiteres Wechselspiel in dem Film. Einerseits ist da diese ernsthaft in Szene gesetzte Seelenwanderungsgeschichte. Andererseits gibt es immer wieder urkomische Momente zwischendurch.
Nun, es gibt da schon diese philosophische Ebene. Andererseits halte ich es aber für geradezu lebenswichtig, sich selbst nie zu ernst zu nehmen. Ich liebe sehr die Filme von Jacques Tati, gerade weil sie wichtige, ja existenzielle Fragen behandeln. Wenn aber, wie regelmäßig bei Tati, Objekte den Aufstand proben gegen die Menschen, dann ist das Lachen die einzig mögliche Reaktion.
Ein weiteres wichtiges Element ist die Tonebene - insbesondere der immer wiederkehrende pochende Ton, der eine Art Herzklopfen, einen Lebensimpuls des Films darzustellen scheint.
Ich bin sehr glücklich über die Tonarbeit des Films. Ich habe den Film seit einem Jahr nicht mehr im Kino gesehen, aber ich finde es sehr schön, wenn ich mich auf Festivals während der Vorführung in der Nähe des Saals befinde und das Pochen bis nach draußen höre. Ich wollte die Aufhebung der sonst klaren Bild-Ton-Hierarchie. Wir haben dafür auf die üblichen Surround-Effekte verzichtet. Der Ton kommt ausschließlich von hinter der Leinwand, um klarzumachen, dass es in den Bildern oder hinter den Bildern noch etwas Weiteres gibt.
Stimmt es, dass Sie jetzt an einem Animationsfilm arbeiten?
Ja, ich bin aber noch nicht sicher, ob daraus wirklich mein nächster Film werden wird. Es handelt sich dabei um eine teilweise autobiografische Geschichte von einem acht- oder neunjährigen Kind, das viel Zeit zu Hause verbringt. Das Ganze spielt zwischen 1978 und 1979, in den "bleiernen Jahren" nach dem revolutionären Aufbruch. Eine Phase, in der die Leute sich wieder in ihre Häuser als Schutzräume zurückziehen. In genau dieser Zeit erlebt aber in Italien das Privatfernsehen seinen Durchbruch. Berlusconi ist da in mehr als einer Hinsicht verwickelt: Er begann ja als Bauunternehmer - und mit dem Fernsehen drang er dann auch noch in das Innere der von ihm gebauten Häuser ein. Ich begreife das als ein Projekt zu den Wurzeln der italienischen Gegenwart, zu den Ursprüngen des Berlusconismus.
Man darf, man muss Sie als politischen Filmemacher begreifen?
In einer Situation, wie wir sie in Italien haben, einer Situation, in der das Fernsehen und die Filme für gewöhnlich dem Zuschauer nicht den mindesten Freiraum lassen, ist ein Kino, das offen ist, sind Filme wie die meinen, die auf diesen Freiraum, die Interaktion zwischen dem Film und dem Zuschauer insistieren, tatsächlich politische Filme. Aus dem einfachen Grund, dass man den Zuschauer als freien Bürger adressiert und betrachtet. Ich mache lieber einen Film über Ziegen, der die Zuschauer in ihrer Haltung und ihrem Blick auf die Welt irritiert und so zur Reaktion herausfordert, als einen Film, der mit redlichen Absichten in tausendmal gesehener Weise die Politik der G 8 kritisiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben