Interview mit Berliner Schulpsychologen: "Suizid ist eine ganz diffizile Sache"
Angriffe mit Scheren in der ersten Klasse, Fußtritte gegen LehrerInnen, Mobbing: Ein Schulpsychologe berichtet von seinem Arbeitsalltag
taz: Herr Steininger, Sie sind einer von 15 Schulpsychologen für Gewaltprävention und Krisenintervention in Berlin. Diese Stellen wurden infolge des Amoklaufs von Erfurt vor zehn Jahren eingerichtet. Wann werden Sie an Schulen gerufen?
Wolfgang Steininger: Immer dann, wenn es pädagogische Grenzsituationen gibt.
Wann ist das der Fall?
Pädagogische Grenzsituationen sind nach Gefährdungsgraden eingeteilt. Zum Gefährdungsgrad 3 zählen die schlimmsten Sachen, die passieren können: Amok, Brand, Epidemie, Vergiftung, Geiselnahme, Sprengsatz, Suizid, Waffengebrauch, Tod. Gefährdungsgrad 2 sind Amokdrohung, Bedrohung, Gewaltdarstellung auf Datenträgern, Gewalt in der Familie, Handeln mit Suchtmitteln, Nötigung, Erpressung, Raub, schwere körperliche Gewalt, sexuelle Übergriffe, Suizidversuch, Übergriffe auf Schulpersonal, Vandalismus, verfassungsfeindliche Äußerungen, Waffenbesitz. Tagtäglich zu tun haben wir mit dem Gefährdungsgrad 1.
Wolfgang Steininger
54, ist einer von 15 Schulpsychologen für Gewaltprävention und Krisenintervention in Berlin und arbeitet am Schulpsychologischen Beratungszentrum Lichtenberg. Der Notfallpsychologe ist für 50 Schulen in Lichtenberg zuständig.
Steininger wuchs als Kind einer Lehrerin und eines Lehrers in Mecklenburg-Vorpommern auf. Er studierte in Güstrow Polytechnik, Arbeitslehre, arbeitete einige Jahre in Berlin als Lehrer und studierte schließlich pädagogische Psychologie in Güstrow. Er wohnt seit 25 Jahren in Berlin, lebt ohne Trauschein mit einer Lehrerin zusammen, hat drei Töchter, 7, 13 und 30 Jahre alt, und lebt in Prenzlauer Berg.
In seiner Freizeit begeistert er sich für Modellbau: Puppenstuben für die Töchter, Segelschiffmodelle, Hubschrauber oder Modellraketen, mit denen er bisweilen versucht, einen Draht zu schwierigen Schülern zu finden.
Und was gehört dazu?
Beleidigung, Drohung, Tätlichkeit, Mobbing, Suchtmittelkonsum, Äußerung und Ankündigung von Suizid oder der Tod von Schulangehörigen infolge eines Unfalls.
Welche Altersstufen sind am auffälligsten?
Das höchste Aufkommen haben wir an Grundschulen. Die sind auch prozentual am höchsten vertreten. Wir haben schwere Gewaltmeldungen von Schülern in der ersten und zweiten Klasse.
Tatsächlich, in der ersten und zweiten Klasse?
Ja, da greifen Schüler schon zu extremen Handlungsweisen, gefährden sich selbst und andere. Sie gehen mit einer Schere aufeinander los oder greifen mit Fußtritten und Fausthieben Lehrerinnen und Lehrer an. Dann kommen die achten und neunten Klassen. Im Abiturbereich haben wir weniger Probleme mit dem Sozialverhalten, sondern mehr mit der Ichsteuerung, suizidalen Tendenzen. Hauptsächlich habe ich mit Schülern zu tun, die sich nicht regelkonform verhalten und versuchen, das System Schule außer Kraft zu setzen.
Wie versuchen das die Schüler?
Indem sie ganz bewusst Regeln überschreiten, Mitschüler und Lehrkräfte provozieren und auch vor Tätlichkeiten nicht zurückschrecken.
Wie erleben Sie die Schüler, mit denen Sie zu tun haben?
Was mich erschüttert, sind emotionale Verwahrlosung und mangelnde Empathie. Ich hatte einmal mit Schülern einer 10. Klasse zu tun, die an einer U-Bahn-Schlägerei beteiligt waren. Ihr Unrechtsbewusstsein war überhaupt nicht nachhaltig. Ich habe mich gefragt, wie es sein kann, dass sie emotional so verwahrlost sind. Oder stellen Sie sich eine Lehrerin vor, mit 30 Jahren Berufserfahrung, die mit einem Faustschlag eines Schülers niedergestreckt wird. Früher haben Schulsenatoren mit angegriffenen Lehrern persönlich telefoniert. Das hat den Kollegen gut getan. Davon ist man aber abgekommen, und die Lehrer fragen sich, womit sie das verdient haben. Es kann nicht sein, dass Lehrer zum Freiwild werden.
Was war Ihr jüngster Fall?
Eine Suizidankündigung einer Gymnasiastin in einem Chatraum im Internet. Ein Schüler hatte das gelesen und die Vertrauenslehrerin informiert. Suizid ist eine ganz diffizile Sache. Oft ist es so, dass Signale gesendet werden mit dem Wunsch, dass sich etwas ändert, aber die Absicht muss nicht unbedingt ernsthaft sein.
Was können bei Schülern Gründe für Suizidgedanken sein?
Oft geht es um Geschwisterrivalität, mangelnde Empathie im Elternhaus und allgemeinen Weltschmerz. In der Pubertät ist es normal, sich infrage zu stellen, sich neu zu konstituieren, aber auch bestimmten Belastungen standzuhalten. Es gibt eine Erwartungshaltung der Eltern, bewussten und unbewussten Druck, Insuffizienzgefühle. Bei dieser Problematik ist der Kontakt zu den Elternhäusern ein ganz großes Problem.
Wieso?
Manche sind dankbar und erschüttert, andere sind hysterisch oder drohen mit einem Anwalt. Oft haben Eltern Angst, dass ein Außenstehender ihr System zu Hause dynamisiert. Es gibt Eltern, die sagen: „Den Scheiß hör ich mir nicht an“, und gehen. Auch wenn gegen einen Schüler eine Vielzahl von Verfehlungen vorliegen, höre ich oft von Eltern, dass sie ihrem Kind glauben, obwohl sie gar nicht dabei waren. Dann fehlt die Basis.
In welchen Bezirken haben die Schulpsychologen am meisten zu tun?
Vor allem in Mitte, Neukölln und Kreuzberg. Bis vor einigen Jahren wurden die Bezirke anhand eines Meldeverfahrens verglichen. Da kam raus, dass Neukölln nach wie vor Spitzenreiter war. Von diesem Verfahren sind wir abgerückt. Denn dieser Indikator spiegelt nur indirekt wider, was an den Schulen los ist. Es gibt Spannungsspitzen und auch immer wieder Wellenbewegungen. Wenn eine Schule keine Hilfe braucht und Vorfälle nicht meldet, heißt das nicht, dass sie sich nicht mit Gewalt beschäftigt. Vielmehr ist diese Schule vielleicht im Krisenmanagement professioneller geworden und nutzt stärker schulinterne Mittel zur Konfliktaufarbeitung.
Wie viele Gewaltfälle wurden 2011 in Berlin gemeldet?
Im Schuljahr 2010/2011 gab es 1.468 Meldungen. Im Vorjahr 1.576 und 2008/2009 waren es 1.817. Bei rund 1.000 Schulen macht das zwei Meldungen pro Schule pro Schuljahr.
Wie ist denn die Situation an den Schulen im Bezirk Lichtenberg, für den Sie zuständig sind?
Da haben wir am meisten an Grund- und Sonderschulen zu tun. Wir waren im vorderen Drittel, jetzt sind wir bei den Gewaltvorkommen im Mittelfeld.
Begegnen Ihnen die Schüler, mit denen Sie zu tun haben, auch mit Gewalt?
Weniger, weil zwischen Vorfall und Aufarbeitung eine Ruhephase gewesen ist und ich für die meisten Schüler eine total fremde Person bin. Wir streben immer einen Täter-Opfer-Ausgleich an. Das kann „die Hand geben“ sein, eine kleine Aufmerksamkeit oder bei Zickenalarm Auflagen wie einen gemeinsamen Kinobesuch – in der Hoffnung, dass so ein minimaler sozialer Verbund entsteht. Aber es gibt Schüler, die sich verweigern.
Was machen Sie mit denen?
Wenn ein Kind mit schulpsychologischen Mitteln nicht erreichbar ist, die psychosoziale Verwahrlosung einen bestimmten Punkt erreicht hat, bleibt oft nur die Möglichkeit, dieses Kind aus seinem angestammten sozialen Milieu herauszunehmen. Wenn am Abendbrottisch ein Elternteil über die Schule sagt, die hätten alle ein Rad ab, dann ist das für ein Kind wie ein Freibrief.
Wie oft denken Sie, dass nicht die Kinder, sondern die Eltern Hilfe bräuchten?
Oft. Die Kinder sind nur Symptomträger. Wir als Schule schaffen es nicht, die Eltern zu erziehen. Wenn ein Elternhaus einem Lehrer, einer Lehrerin oder einer Schule ablehnend gegenübersteht, haben wir ganz, ganz schlechte Karten, weil das Kind in seinen negativen Sozialhandlungen gedeckt wird.
Zieht sich das durch alle Schichten oder reden Sie von Hartz-IV-Familien?
Es sind bildungsferne Eltern, die mit sich und ihrer sozialen Situation beschäftigt sind und selbst keinen strukturiertes Leben haben. Manchmal sind die Kinder die einzigen, die eine soziale Verantwortung haben, weil sie morgens in der Schule sein müssen. Wenn wir zu Elternversammlungen einladen, sind die Eltern, die wir gerne erreichen möchten, nicht da. An einer Grundschule haben wir neulich eine Veranstaltung zu Aggressionen und Erziehung gemacht. Bei sechs Klassen hätten etwa 100 Eltern da sein können. Aber wir waren vielleicht acht. Wenn im Leben dieser Kinder kein Wunder passiert, werden sie mit dem Gesetz der Straße groß.
Was für ein Wunder?
Ein Verwandter zieht mit den Kindern aufs Land oder jemand erkennt eine Begabung, die die Kinder haben. Es ist wie ein Teufelskreis: Weil sie verhaltensauffällig sind, werden sie ausgeschlossen, beispielsweise vom Zirkusbesuch. Dann sind sie sauer, weil sie noch nie im Zirkus waren. Oder die Eltern bezahlen oder beantragen das Geld für eine Klassenfahrt nicht. Diese Kinder haben einen erhöhten pädagogischen Aufwand. Und sie treiben die Kolleginnen an den Rand des Leistbaren, weil es an grundlegenden Sozialnormen fehlt.
Was meinen Sie mit grundlegenden Sozialnormen?
Vor zehn Jahren haben meine Kollegen und ich uns noch gegenseitig Akten gezeigt, wenn Psychologen von „völlig unerzogenen Kindern“ schrieben. Heute sieht die Realität so aus, dass Kinder mit immer weniger sozialen Grundnormen wie „bitte“ und „danke“ oder Bedürfnisaufschub in die Schule kommen und ihnen minimalste soziale Handlungsmuster fehlen. Ich hätte früher nicht gedacht, dass ich in meiner beruflichen Tätigkeit einmal mit polizeilichen Anzeigen gegenüber Schülern zu tun haben könnte.
Wie könnte man diese Defizite auffangen?
Vielleicht müsste ein Fach eingeführt werden, das sich soziales Lernen nennt, in dem es um das Einhalten von Regeln geht, um normale Gepflogenheiten und Konfliktverhalten. Die Schulen würden sich auch wünschen, dass Fähigkeiten wie mit der Schere umgehen, kleben, mit Tusche oder Buntpapier arbeiten bei allen Kindern da sind. Für viele Erstklässler ist das eine Überforderung.
Was für Unterschiede erleben Sie bei Gewalt zwischen Jungs und Mädchen?
In der Regel kann man sagen, dass 75 Prozent der Fälle Jungs betreffen und 25 Prozent Mädchen. Bei Mädchen handelt es sich in der Regel um Zickenalarm und Mobbing. Eine beliebte Sportart bei Mädchen ist, sich nach der Schule bei jappy.de zu beschimpfen. Sie kommen aus der Schule, schmeißen ihre Mappen in die Ecke, werfen ihre Angeln aus – der ist doof und die ist blöd – und warten, was kommt. Die Rechtschreibung ist nicht zu fassen, manchmal muss man das laut lesen, um es zu verstehen.
Haben Sie als Schulpsychologe auch Erfolgserlebnisse?
Ja. Das letzte Mal heute morgen! Eine Schulleiterin, die mich wegen eines Gewaltvorfalls angerufen hatte, fragte mich, was ich mit dem Schüler gemacht hätte, der gerade ein Praktikum macht. Sie befürchtete, er wäre rausgeflogen. Aber er wurde gelobt.
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