Interview mit Arbeitsrechtsanwalt: „Eine entmenschlichte Arbeitswelt“
Rechtsanwalt Martin Bechert vertritt Rider und den Betriebsrat des Lieferdienstes „Gorillas“. Er kritisiert etwa die Ausbeutung von Migrant*innen.
taz: Herr Bechert, bestellen Sie manchmal bei Lieferdiensten?
Martin Bechert: Nein.
Der Rechtsanwalt ist seit 20 Jahren als Fachanwalt für Arbeitsrecht in Berlin tätig. Der gebürtige Bremer hat sich mittlerweile als Anwalt für Rider von Lieferdiensten einen Namen gemacht und setzt sich erfolgreich gegen ungerechtfertigte Kündigungen, Lohndiebstahl und Union Busting ein.
Warum nicht?
Ich brauche das nicht. Wenn man aber körperlich beeinträchtigt ist, ist das eine gute Möglichkeit.
Sie arbeiten als Anwalt für den Betriebsrat von „Gorillas“ und einzelne Lieferdienst-Arbeiter*innen. Wie viel haben Sie im Moment zu tun?
Sehr viel. Es gab Kündigungswellen bei Gorillas und bei „Getir“, eigentlich durch die Bank weg. Offene Zahlungen sind ein durchgehendes Problem für die Rider und Picker, also die prekär beschäftigten Arbeitnehmer. Dass die nicht richtig bezahlt werden, dass die Abrechnungen nicht stimmen, dass das Trinkgeld nicht weitergegeben wird, solche Sachen. Da gibt es reichlich zu tun.
Wie viele Lieferdienst-Angestellte haben Sie bislang vertreten?
Ich würde sagen, um die 100. Bisher habe ich praktisch kein Verfahren verloren, selbst nicht in Fällen, wo Leute wegen wilder Streiks von Gorillas gekündigt wurden. Also super Aussichten. Aber das spiegelt ja auch ein bisschen das System wieder.
Inwiefern?
Bei den Lieferdiensten geht es nicht darum, sich an Recht zu halten, sondern sich faktisch durchzusetzen.
Das klingt so, als wären die Rechtsbrüche einkalkuliert.
Ich gehe davon aus, dass die wissen, dass sie vielfach gegen Recht verstoßen, und dass es ihnen egal ist.
Getir, Flink, Volt, Gorillas, Dropp – die verschiedenen Start-ups kämpfen um Marktanteile in Berlin, meist zulasten der Arbeitsbedingungen ihrer Angestellten. Welcher Lebensmittellieferdienst tut sich besonders hervor?
Eigentlich keiner. Alle haben gemeinsam, dass das Recht nicht eingehalten wird. Sie machen, was sie wollen, und dann gucken sie, dass sie es hinterher reparieren. Das ist durchgehend bei allen so.
Warum sind ausgerechnet bei Online-Lieferdiensten die Arbeitsbedingungen so schlecht?
Das ist eine entmenschlichte Arbeitswelt. Das fängt mit der Zeitplanung an: Wenn ein Logarithmus der Chef ist, dann ist es egal, ob Sie einen guten Grund haben, warum Sie eine Schicht nicht wahrnehmen können. Da geht es nur noch nach Verfügbarkeit.
Sie vertreten auch einige der 300 gekündigten Gorillas-Mitarbeiter*innen. Wie ist da der aktuelle Stand?
Wir haben jetzt ungefähr zehn Klagen – von 50 Leuten, die sich haben beraten lassen. Das ist echt ein schlechter Schnitt. Die meisten nehmen die mickrigen Abfindungen und gehen zum nächsten.
Warum?
Viele haben Migrationshintergrund und denken, was kann ich schon erreichen? Also nehmen sie lieber den nächsten Job und haben keinen Ärger mit ihren Visa. Wenn dein Visum an dein Arbeitsverhältnis gekoppelt ist und die Klage etwas länger dauert und man keinen Job mehr hat und keine Kohle, dann ist das ein viel, viel größeres Problem.
Die Kündigungen sind angeblich Teil einer neuen Strategie, weg von ungebremstem Wachstum hin zu Profitabilität. Was bedeutet das für die Zukunft der Branche? Sind die Massenentlassungen bei Gorillas erst der Anfang?
Gorillas scheint nicht mehr genügend Investoren zu finden und ich weiß nicht, wie lange die das noch durchhalten. Mein Eindruck ist: Die haben kein Geld mehr und schrumpfen nicht, um sich zu konsolidieren, sondern um zu überleben.
Und der Rest der Branche?
Die sind alle am Arsch. Die verbrennen Geld und das in jedem Bereich. Ich warte eigentlich nur noch auf die erste Insolvenz.
Die Ausbeutung der Fahrer*innen scheint bei Lieferdiensten ein Geschäftsprinzip zu sein. Das Problem ist nicht neu, wieso ist es so schwer, dagegen vorzugehen?
Ich glaube, der politische Wille fehlt, da will keiner ran. Und die DGB-Gewerkschaften kommen nicht aus dem Knick. Aus meiner Sicht ist deren Apparat zu schwerfällig.
Ist das Arbeits- und Streikrecht denn überhaupt noch zeitgemäß?
Das Streikrecht muss so ausgestaltet sein, dass es tatsächlich realisiert werden kann. Das ist derzeit nur eingeschränkt möglich. Die DGB-Gewerkschaften tun sich in diesem Bereich schwer. Man braucht sie aber, um zu streiken. Vor den wilden Streiks bei Gorillas wurden sie angefragt, ob sie das übernehmen wollen. Alle haben abgelehnt. Was bleibt einem Rider, der prekär beschäftigt ist und nicht richtig bezahlt wird, der also keine Zeit hat, lange auf ein Urteil zu warten, der vielleicht auch visamäßig wackelig steht, denn dann noch übrig? Wie kann der seine Ansprüche durchsetzen?
Wie denn?
Der wilde Streik ist der einzige und letzte Weg und Ausdruck absoluter Ohnmacht und Verzweiflung. Das muss man sich mal vorstellen, die haben dafür gearbeitet und kriegen das Geld nicht, der Lieferdienst hält sich nicht an die Verträge. Und dann ist das einzige, was sie noch machen können, sich zusammenzutun und zu streiken. Das hat schon fast was Romantisches, was Historisches, das kennt man aktuell ansonsten gar nicht mehr in Deutschland.
Die Berliner Lieferando-Arbeiter*innen gründen zurzeit einen Betriebsrat, auch beim Lieferdienst Getir wurde dies in die Wege geleitet, für Gorillas gibt es in Berlin bereits einen: Tut sich doch was in der Lieferdienstbranche in Sachen Arbeitsrecht?
Da muss ich Sie enttäuschen. Letzten Endes braucht es politischen Druck und den Druck der Arbeitenden. Von selbst wird sich da gar nichts ändern. Und derzeit kriegen sie nicht so viel Druck, dass sie sich ändern müssen.
Viele Lieferdienste betreiben Union Busting und gehen systematisch gegen Arbeiter*innenvertretungen vor. Ist das nicht eigentlich verboten?
Der Schutz der Leute, die sich organisieren, ist ein Flickenteppich. Das wissen auch die Arbeitgeber. Bei Getir hagelt es jetzt Kündigungen und die Leute sind nahezu schutzlos. Das müsste verbessert werden. Sie können zum Notar gehen und sagen, dass sie einen Betriebsrat gründen möchten. Aber das heißt nicht, dass sie nicht gekündigt werden können. Außerordentliche Kündigungen sind trotzdem möglich und natürlich werden sie in solchen Situationen vom Arbeitgeber außerordentlich gekündigt. Der wartet doch nicht, bis Sie einen Wahlvorstand gestellt haben. Am Ende landen Sie als migrantischer, prekär beschäftigter Arbeitnehmer vorm Arbeitsgericht und dann dauert das ein, zwei Jahre, bis Sie rechtskräftig wissen, dass die Kündigung unwirksam war. Und bis dahin kriegen Sie keine Arbeit und auch keinen Lohn.
Gibt es denn keine Strafen für die Arbeitgeber, wenn die immer wieder gegen geltendes Recht verstoßen?
Um gegen Betriebsratsbehinderung vorzugehen, müssen Sie einen Vorsatz nachweisen. Die ganze Vorschrift ist sehr kompliziert und schwierig umzusetzen. Strafrechtlich hat der Arbeitgeber eigentlich nichts zu befürchten. Die Strafen beim Verstoß gegen das Betriebsverfassungsgesetz sind für Google oder Gorillas ein Witz. Deswegen werden Betriebsräte zum Teil ja auch übel behandelt.
Was bräuchte es, um bessere Arbeitsbedingungen in der Branche sicherzustellen?
Ein Betriebsrat hilft auf jeden Fall. Die Gründung muss aber schneller gehen, damit der Arbeitgeber keine Zeit hat, Union Busting zu betreiben. Etwa bei der Wahl zum Wahlvorstand, der könnte einfach von den Gewerkschaften eingesetzt werden. Auch muss der Schutz für die Leute besser werden. Letzten Endes ist es so, dass die Arbeitgeber irgendwann die Betriebsratsmitglieder nicht mehr richtig bezahlen. Das ist bei Gorillas so, aber auch bei anderen. Da brauchen wir die Politik und die Arbeitsgerichtsbarkeit.
Was könnte die Politik noch tun?
Man könnte zum Beispiel eine Anlaufstelle schaffen, die die Leute anonym informiert und bei Visafragen hilft – für Leute, die nur deswegen Visa-Schwierigkeiten haben, weil sie sich engagieren. Das ist ein Riesenproblem.
Ist es nicht generell problematisch, dass das Aufenthaltsrecht an einen Arbeitsvertrag geknüpft ist? Dadurch werden viele Migrant*innen leichter ausbeutbar.
Es bräuchte Möglichkeiten, migrantische Arbeitende da zu unterstützen, sie etwa nicht abzuschieben, wenn sie zwei Jahre lang klagen müssen. Damit sie nicht innerhalb kürzester Zeit wieder in ein anderes Arbeitsverhältnis gehen müssen. Daran scheitert es vielfach. Aber auch an ganz praktischen Sachen, etwa Prozesskostenhilfe zu beantragen. Das ist für viele ein Buch mit sieben Siegeln, auch weil die Anträge nur auf Deutsch sind.
Warum arbeiten überhaupt noch Leute für diese Unternehmen, wo die Arbeitsbedingungen doch bekanntermaßen so schlecht sind?
Es ist extrem niedrigschwellig. Viele kommen nach Deutschland, haben keine Kohle, sprechen kaum oder kein Deutsch und brauchen Arbeit. Dann kommt ein lässiges Start-up und bietet dir 12 Euro die Stunde und du kannst direkt anfangen. Die Leute denken, wie schlimm kann es schon sein? Bis das erste Gehalt nicht richtig überwiesen wird.
Wie sind Sie eigentlich zu dem Thema gekommen?
Es ist zu mir gekommen. Ich bin schon lange Rechtsanwalt für Arbeitsrecht, aber nicht so DGB-nah wie viele meiner Kollegen. Das hat sich irgendwann herumgesprochen. Ich mache auch eine ganze Menge kostenlos, anders geht das gar nicht. Mir liegen die Leute am Herzen, sonst würde ich das nicht machen.
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